Das Phänomen der Zivilgesellschaft zu beschreiben verglich die Politikwissenschafterin Birgit Sauer einmal mit der Herausforderung, einen Pudding an die Wand zu nageln. Im Email-Interview mit derStandard.at/Politik stellt sie sich erneut dieser Herausforderung und begründet, woher im Jahr 2000 auf einmal die Faszination für Zivilgesellschaft kam, beschreibt die Geschichte des Phänomens sowie dessen Funktion in der Demokratie und erklärt, warum Frauen in dieser Sphäre stärker vertreten sind als in der "etablierten Politik".
derStandard.at: Mit den Demonstrationen im Jahr 2000 war auf einmal der Begriff der Zivilgesellschaft in aller Munde. Woher kam auf einmal dieses Interesse an Zivilgesellschaft?
Birgit Sauer: Zivilgesellschaft ist ein Begriff, der einige "Wanderungen" und Wandlungen hinter sich hat. Die OrganisatorInnen der Anti-Regierungsdemonstrationen im Jahr 2000 suchten nach einem Begriff, der die unterschiedlichen Gruppen, die gegen die Regierung waren, mobilisieren und organisieren kann. Das war der Begriff Zivilgesellschaft.
Er wurde zu diesem Zweck der Mobilisierung und Konstituierung einer regierungskritischen Gegenbewegung umgedeutet: Jene Teile der österreichischen Gesellschaft, die regierungskritisch oder -ablehnend waren, sollten sich unter diesem begrifflichen Dach versammeln. Früher hätte man das "Außerparlamentarische Opposition" oder "Anti-Regierungsbewegung" genannt. Der Begriff Zivilgesellschaft weckt die Assoziation von "Zivilcourage", von "zivilem Ungehorsam" und bot sich deshalb als ein mobilisierender Begriff an.
derStandard.at: Unabhängig von Österreich gesehen: Woher kommt der Begriff eigentlich?
Sauer: Historisch stammt der Begriff aus dem 18./19. Jahrhundert, er wurde beispielsweise von Hegel im Sinne der "bürgerlichen Gesellschaft" verwendet (cives = der Bürger). Auch der Marxist Gramsci hatte keinen positiv-emphatische Vorstellung von "Zivilgesellschaft", im Gegenteil: Dazu zählte er Kirche und Medien, also Agenturen, die die Aufgabe haben, die "Meinung der Herrschenden" zur "herrschenden Meinung" zu machen. Erst über die Rezeption des Begriffs durch die DissidentInnenbewegungen in den realsozialistischen Staaten wurde der Begriff in der westlichen Demokratietheorie und Politik als ein utopisches Konzept verstanden, das ein Mehr an Demokratie bringt.
Das war sicher auch eine der Überlegungen der OrganisatorInnen der Demonstrationen 2000 – die Sorge um die Österreichische Demokratie angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ und die aktive Suche nach Alternativen.
derStandard.at: Dem immer wieder konstatierten Anstieg der Politik- und Parteienverdrossenheit steht nach Ansicht von Politikwissenschaftlern eine verstärkte Bereitschaft zum Engagement in NGOs gegenüber. Ist Zivilgesellschaft eine Gefahr für das Parteiensystem?
Sauer: Fast wäre ich geneigt zu schreiben: Schön wär's! – Soziale Bewegungen und NGOs würde ich nicht als Gefahr, sondern als Herausforderung für etablierte Parteien begreifen. Historisch haben Parteien diese Herausforderung ja auch immer wieder aufgegriffen – z.B. die Umweltfrage oder die Frage der Geschlechtergleichstellung. Ohne soziale Bewegungen hätten diese Themen in kein Parteiprogramm Eingang gefunden.
Diese Absorptionsfähigkeit von Parteien und ihre Tendenz zur Oligarchisierung, ihre Orientierung an politischer Macht und vor allem ihre zunehmende Orientierung an den Bedürfnissen der Ökonomie sind immer noch Anlass zu Frustration und Enttäuschung der BürgerInnen. Diese suchen deshalb andere Formen des Engagements.
Hatten Parteien im Nationalstaat lange Zeit das Deutungs- und Entscheidungsmonopol inne (nur sie sind nach wie vor zu Wahlen auf Bundesebene in Österreich zugelassen), so haben sich die Formen der Willensbildung und auch der Entscheidungsfindung im vergangenen Jahrzehnt auf nationaler aber auch auf internationaler Ebene verändert: Unter "Governance" versteht die Politikwissenschaft heute beispielsweise die Einbindung von NGOs oder Betroffenengruppierungen im Vorfeld von politischen Entscheidungen. Ob dies freilich ein Mehr an Demokratie bedeutet – oder nicht nur die "hegemoniale Einbindung" dieser Gruppen – gilt es zukünftig noch auszuloten.
derStandard.at: Auch wird festgestellt, dass Frauen in NGOs eine bedeutendere Rolle als in der "etablierten Politik" spielen. Wie äußert sich das? Und warum sind sie dort mehr vertreten?
Sauer: Parteien agieren in Bezug auf Frauen extrem irrational – wenn frau unter rational schlicht und einfach die Orientierung von Parteien an der Maximierung ihrer Stimmen versteht: Die meisten Parteien – in Österreich mit Ausnahme der Grünen – bieten Frauen, die ja mehr als die Hälfte des WählerInnenpotenzials stellen, eigentlich kaum was. Weder sind Frauen in ihren Parteiorganisationen so präsent, dass sie selbstverständlich sind, noch gehen die Parteiprogramme auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen von Frauen ein. Da ist es kein Wunder, dass Frauen besonders "parteienverdrossen" sind.
In Gruppierungen, wo es nicht so selektive Rekrutierungsprozesse gibt wie in klassischen Parteien, wo frau sich nicht von Jugend an in einer Hierarchie hochdienen muss, den Stallgeruch erwerben muss, um dann durch irgendein Netzwerk doch wieder ausgebremst zu werden, sind sie eher bereit, sich zu engagieren. Das ist auch oftmals mit weniger Zeitaufwand verbunden. Was sicher nicht richtig ist, dass NGOs per se "frauenfreundlicher" sind. Auch da müssen Frauen sich durchsetzen und kämpfen, doch die anderen Organisationsstrukturen machen diesen Kampf wenn nicht einfacher, so doch vielleicht freudvoller.
derStandard.at: Ist Zivilgesellschaft feministischer als die "etablierte Politik"? Sprich: Stehen feministische Themen stärker im Vordergrund?
Sauer: Nein! Auch in NGOs müssen feministische Themen immer wieder auf die Agenda gesetzt werden, das funktioniert nicht automatisch.
derStandard.at: Welche Funktion erfüllt Zivilgesellschaft in einer Demokratie? Braucht Demokratie überhaupt eine Zivilgesellschaft?
Sauer: Ich bin skeptisch gegenüber dem emphatisch-positiven Begriff der "Zivilgesellschaft". Wie soll man denn entscheiden, wer zur Zivilgesellschaft gehört? Ist die katholische Kirche Teil der internationalen Zivilgesellschaft, wie einige Teile der Kirche behaupten? Wird da der Begriff nicht zu sehr gedehnt? Aber andererseits: Wer bestimmt die Kriterien, wer "Bürger/Bürgerin" im Sinne der Zivilgesellschaft ist? Und wäre das nicht ein Prozess des Ausschließens und mithin undemokratisch? Kurzum: Ich verwende den Begriff eher im analytisch-skeptischen Sinn von Gramsci und sehe die Zivilgesellschaft als einen Bereich der Gesellschaft, wo Herrschaft vorbereitet, gelebt und durchgesetzt wird – mithilfe staatlicher Einrichtungen.
Diese Unterschiede in der Benennung eines Phänomens, die ich für wichtig halte, heißen aber nicht, dass ich das, was in der Diskussion in Österreich damit bezeichnet wurde, für unwichtig halte. Im Gegenteil: Öffentlichkeit, Protest, Widerspruch und Widersprechen durch Gruppen, die nicht am (partei-)politischen und parlamentarischen Prozess beteiligt sind, ist unabdingbar für Demokratie. Sie sind nicht nur Ergänzung und Korrektiv für repräsentativ-demokratische Einrichtungen wie Parlament und Regierung, sondern das Fundament der gerechten und möglichst herrschaftsfreien Organisation von Gesellschaft.
Was ich mit meiner Skepsis dem Begriff Zivilgesellschaft gegenüber ausdrücken will ist, dass auch diese Gruppen nicht frei von Herrschaft und Dominanz sind. Mir kommt es darauf an, vielmehr auf Auseinandersetzung, Kampf und Dissens hinzuweisen, der unter herrschaftlichen Bedingungen immer da ist. Das ist z.B. eine Erfahrung, die man von der Frauenbewegung lernen kann.
derStandard.at: Unter AkteurInnen von Zivilgesellschaft werden die unterschiedlichsten Gruppierungen genannt, manche meinen sogar, es reiche, wenn man ein Posting auf einer Homepage veröffentlicht. Wie sehen Sie das?
Sauer: Mit meiner obigen Skepsis dem Begriff gegenüber ist genau dieses Problem genannt: Zur Zivilgesellschaft kann jeder gezählt werden und kann sich jeder zählen. Das ist aber überhaupt erst der Beginn einer demokratischen Selbstorganisation der Gesellschaft. Dann fängt nämlich das Ringen um die Formen, um Inhalte an. Und dieses Ringen darum ist nie abgeschlossen – deshalb kann auch "die Zivilgesellschaft" nicht abgeschlossen sein und nicht als eine "In-group" von Organisationen begriffen werden – die dann bestimmt, wer was Posten darf oder nicht.
derStandard.at: Wenn man davon ausgeht, dass die AkteurInnen der Zivilgesellschaft von Organisationen wie der Caritas bis hin zu feministischen Organisationen reichen: Kann man ein übergeordnetes Ziel ausmachen, das alle verschiedenen AkteurInnen der Zivilgesellschaft verfolgen?
Sauer: Wenn ich dem Begriff Zivilgesellschaft irgendeinen Sinn abgewinnen kann, dann den, dass es um den Abbau von Herrschaft, von Unterdrückung und Ausbeutung, von Ausgrenzung und Ungleichheit geht. Aber die Organisationen, die sich in Österreich zur Zivilgesellschaft rechnen, haben sicher ganz unterschiedliche Vorstellungen, wie diese Begriffe zu füllen sind und vor allem, wie sie erreicht werden können. Darüber wird es also Konflikte geben. Wenn die Debatte über diese Konflikte, die unterschiedlichen Utopien zu einer gegenhegemonialen Sichtweise beitragen, dann ist schon viel gewonnen. – Wenn sie beispielsweise sichtbar machen, dass Menschen nicht schon immer egoistisch, neidisch und konkurrent sind, dann wäre das ein Fortschritt, aber sicher nur ein Anfang.
derStandard.at: Sie sprechen in einem Artikel von der "Bürgergesellschaft" als das "hässliche Geschwister der Zivilgesellschaft". Was unterscheidet die beiden Konzepte?
Sauer: Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass Begriffe "besetzt" werden können und damit in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Der Begriff der "Bürgergesellschaft", wie ihn Andreas Khol verwendet, zielt viel weniger auf die Demokratisierung der österreichischen Gesellschaft, auf die Herausbildung von selbstbewussten und selbstbestimmten BürgerInnen, sondern will mit der Mobilisierung der BürgerInnen den Abbau von Sozialstaatlichkeit auffangen: Die engagierten BürgerInnen der "Bürgergesellschaft" sollen vor allem auf staatliche Leistungen verzichten, ja sie sogar selber erbringen. Sie werden höchstens zu Kunden eines schlanken Staates, nicht aber zu seinen demokratischen und aktiven BürgerInnen.
derStandard.at: Inzwischen gibt es keine Donnerstagsdemonstrationen mehr, die ja als Inbegriff der Zivilgesellschaft galten. Ist mit ihrem Ende auch die Zivilgesellschaft in Österreich wieder eingeschlafen?
Sauer: Jede soziale Bewegung hat im Laufe der Geschichte ihre Mobilisierungsform geändert. Die nicht mehr so obstinate Sichtbarkeit auf der Straße heißt nicht, dass die menschenrechtlichen, feministischen, anti-rassistischen Gruppierungen in Österreich in einen Dornröschenschlaf verfallen sind, sondern, dass die engagierten Menschen an anderen Orten und mit anderen Mitteln arbeiten.