Das Weltmodell der "Flat Earth Society": ". . . und was ist unterhalb der Schildkröte, gnädige Frau?"

Was hat die österreichische Schulpolitik mit der amerikanischen Flat Earth Society gemeinsam? Unglücklicherweise mehr, als für den österreichischen Schulreformdiskurs gut ist. Die Mitglieder der Flat Earth Society glauben, dass die Welt eine Scheibe ist und bekämpfen die Kugelgestalt der Erde als "Häresie". Viele österreichische Bildungspolitiker bekennen sich zu einer Organisation der Schule der 10- bis 15-Jährigen, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, und bekämpfen die Gesamtschule (oder das, was sie für eine Gesamtschule halten). Beiden gemeinsam ist ein problematisches Verhältnis zur modernen Wissenschaft: Der Flat Earth Society sind die Satellitenaufnahmen der Erde aus dem All lästig. Für die Auslese-Befürworter sind internationale Studien wie Pisa ein Ärgernis, ebenso wie die Tatsache, dass so gut wie alle hoch entwickelten Nationen in den letzten 40 Jahren die frühe schulische Auslese abgeschafft und bis zum Ende der Schulpflicht Gesamtschulen eingeführt haben.

"Auftragsforschung"

Was ist überhaupt eine "Gesamtschule"? Oberösterreichs Landeshauptmann Pühringer erklärte im STANDARD-Interview vom 19. Februar: "Ich will auf keinen Fall eine Gesamtschule, wir brauchen ein differenziertes Schulwesen." Die Vorsitzende der AHS-Lehrergewerkschaft Scholik wiederum meinte in der TV-Sendung "Offen gesagt" am 20. Februar: "Finnland hat keine Gesamtschule: Finnland hat eine gemeinsame Schule bis 16 mit innerer Differenzierung."

Selbstverständlich hat Finnland (ebenso wie Schweden, Kanada, Norwegen, Südkorea, Frankreich ...) eine Gesamtschule, also eine gemeinsame Schule bis zum Ende der Schulpflicht, und selbstverständlich wird in allen Gesamtschulsystemen viel kinderfreundlicher und erfolgreicher differenziert, individualisiert und gezielt gefördert als dies in Österreich mit der kruden "Differenzierung" in der Form der Auslese (bzw. der elterlichen Selbstauslese) für die AHS der Fall ist.

Bildungsministerin Gehrer hat nun erklärt, dass sie zur Klärung der Strukturfragen der Schule der 10- bis 15-Jährigen eine Expertenkommission einsetzen wird. Dass sich die "Zukunftskommission" unter dem Vorsitz des österreichischen Pisa-Chefs Günther Haider um ihren Auftrag, "eine umfassende Analyse des österreichischen Schulsystems inklusive der Schulorganisation und der Lehrerbildung zu erstellen" (Zukunftsbericht) herumgedrückt und kein Sterbenswörtchen über die Nöte der Sekundarstufe I gesagt hat, ist ein trauriges Beispiel für eine "Auftragsforschung", die ihre wissenschaftliche Aufklärungspflicht aus Opportunitätsgründen politischen Tabus unterordnet.

Was ist von der "Zukunftskommission 2 zu erwarten?

Erstens: Ihre Hauptaufgabe wird es sein, die österreichische Bildungspolitik davon zu überzeugen dass es Zeit ist, sich vom "Dogma der unbefleckten Auslese mit zehn Jahren" zu verabschieden. Sie kann sich dabei auf 40 Jahre Bildungsforschung berufen, die nachgewiesen hat, dass die Selektion fürs Gymnasium psychometrisch unverlässlich ist, zu sozialer Segregation und zur Benachteiligung von Land-, Unterschicht- und Migrantenkindern führt, die Lernbereitschaft vieler Hauptschüler amputiert und zudem sehr teuer ist.

Zweitens: Sie wird darauf hinweisen müssen, dass sich "echte" Gesamtschulen am besten in Skandinavien erkunden lassen, und dass es ein Armutszeugnis ist, sich auf die Mängel deutscher Pseudo-Gesamtschulen zu berufen, die mit ganz wenigen Ausnahmen ein kümmerliches Dasein fristen, doppelt ausgelesen bzw. "abgerahmt" durch Gymnasien und Realschulen, an die sie die tüchtigeren und ambitionierteren Schüler verlieren, und ohne eine faire Chance, ihr Innovationspotenzial zu entwickeln.

Drittens: Sie wird nüchtern feststellen müssen, dass auch in Gesamtschulen Oberschichtkinder den "Bonus" ihres bildungsambitionierten Milieus und Unterschicht-und Migrantenkinder den "Malus" ihrer schulisch nicht besonders zuträglichen sozialen Herkunft beibehalten. Aber: Struktur und "Logik" eines Gesamtschulsystems sind auf die Verringerung von Chancenungleichheit angelegt, denn jede einzelne Gesamtschule hat den Auftrag, alle ihre Kinder, die tüchtigeren wie die schwächeren, zu fördern, ohne die Möglichkeit, "Misfits" in eine Hauptschule abschieben zu können.

Die Zeit drängt

Und schließlich wird die Kommission dem fatalen Irrtum entgegentreten müssen, man könnte sich mit der anstehenden Strukturreform zehn Jahre Zeit lassen. Es steht nämlich nicht nur die Umwandlung der pädagogischen Akademien in Hochschulen unmittelbar an, sondern auch die Reform der universitären Lehrerbildung nach dem so genannten "Bologna-Modell" mit der Gliederung der Studien in einen Bakkalaureats-und einen Magisterabschluss.

Es ist für die Lehrerbildung von fundamentaler Bedeutung, ob sie auf ein gestuftes Schulsystem mit einer integrierten Schule der 10- bis 15-Jährigen ausgerichtet wird oder nicht. Falls es eine Gesamtschule gibt, wird man sorgfältig prüfen müssen, ob die Universität oder die pädagogische Hochschule der tauglichste Ort für die Ausbildung der Lehrerinnen der Sekundarstufe I ist.

Wissen ist Macht?

Es könnte übrigens durchaus sein, dass es der Strukturkommission bei ihren Aufklärungsbemühungen so geht wie dem jungen Geophysiker, der vor der Flat Earth Society einen Vortrag über den neuesten Stand der Weltraumforschung hielt. Am Ende seiner Ausführungen stand eine alte Dame auf und sagte: "Wissen Sie nicht, dass die Erde eine Scheibe ist, die auf dem Rücken einer Schildkröte balanciert wird?" Der Physiker lächelte nachsichtig und sagte: "Gnädige Frau, und was ist unterhalb der Schildkröte?" Darauf entgegnete sie streng: "Junger Mann, Sie halten sich wohl für sehr clever. Ich kann Ihnen sagen, was darunter ist: Es sind viele Schildkröten, eine auf der anderen, bis ganz hinunter zum Boden des Weltalls!" (DER STANDARD, Printausgabe, 28.2.2005)