Der US-Dokumentarist Frederick Wiseman lotet die Dauerkrise moderner Institutionen aus. Nun widmet ihm das Österreichische Filmmuseum eine Retrospektive.

Von Dominik Kamalzadeh




Wien – "A natural history of the way we live" – als eine Naturgeschichte unserer Lebensweise bezeichnet der US-Filmemacher Frederick Wiseman sein Gesamtwerk gerne.

Foto: Filmmuseum

Eine eigentlich paradoxe Formulierung für einen Dokumentaristen, der seit Ende der 60er-Jahre, in mittlerweile 35 Arbeiten, Institutionen in den Mittelpunkt rückt, an denen ihn interessiert, wie sich der Staat (oder auch unterschiedliche private Einrichtungen) mit der Verwaltung des öffentlichen Lebens abmühen.

Wiseman sucht die Analogie zur Naturwissenschaft und scheut zugleich den Status des Kulturhistorikers.

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Er zieht den Blick des unvoreingenommen Empirikers deswegen dem des Analytikers vor, weil sein Zugang eher auf Entdeckungen denn auf Meinungsbildung aus ist. Dafür spricht, dass er – egal ob er sich einem Spital, einer Wohlfahrtsstelle oder einer Schule nähert – kaum je davor recherchiert.

Das Filmemachen selbst wird so zur Suche, womit die bloße Bestätigung einer vorherrschenden Ansicht verhindern werden soll. Die Welt ist komplex. Das soll ihre filmische Aufarbeitung nicht verhehlen.

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Wisemans Filme sind dahingehend selbst differenzierter geworden: Titicut Follies (1967), das Debüt des promovierten Juristen, war durchaus noch von der Geste des Aufklärers und Anklägers getragen. Die Krankenabteilung eines Gefängnisses für psychisch Gestörte zeigt er hier noch als Ort der Erniedrigung.

Der Film, dessen Titel sich auf ein Variété der Inhaftierten bezieht, wurde aufgrund "der Verletzung der Privatsphäre der Aufseher" verboten.

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1968, kurz nach der Democratic Convention von Chikago, sieht er im Porträt einer Polizeieinheit von Kansas City noch die Gelegenheit "to get the pigs" – die Schweine zu erwischen. Doch Law and Order löst diese Intention nicht mehr ein.

Wiseman fährt mit der Streife mit und ist bei Verhaftungen und Verhören dabei. Zwar wird er zum Zeugen von Übergriffen – eine Frau wird sinnlos gewürgt –, er vollzieht aber auch mit, wie ein Polizist einem Mädchen hilft, das sich verlaufen hat.

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Dialektische Montage

Merkbar dialektischer im Arrangement der Szenen zielt Law and Order über das Sichtbarmachen des Alltäglichen hinaus. Hier geht es bereits um eine Krise, die umfassender ist, weil sie weniger von den Freiheiten der Gewalt berichtet, als von einer permanenten Überforderung, die gesellschaftliche Hintergründe hat. "There's nothing we can do about it.", lautet ein Satz zu Beginn und am Ende des Films – dessen resignatives Moment gerade Richard Nixon in einer Wahlrede zu zerstreuen versucht.

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Ob in Hospital (1970) und in Juvenile Court (1974) oder in seinen Erkundungen des militärisch-industriellen Komplexes, Basic Training (1971) und Missile (1988, Bild) – Wiseman hat aus der Position des unbeteiligten Beobachters facettenreiche Mosaike diverser Einrichtungen erstellt.

Sein kommentarloses Mitvollziehen von Prozessen steht zwar in der Tradition des Direct Cinemas. Anders als Richard Leacock oder die Maysles-Brüder reizen ihn an dieser Methode aber nicht die performativen Qualitäten, sondern die Möglichkeit, soziale Praktiken aufeinander zu beziehen.

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Seine Filme, interessanterweise zuallererst auf eine TV-Auswertung angelegt, wurden mit der Zeit immer länger, wobei sich die Dauer aus der Durchdringung des Themas ergibt.

Welfare (1975) verfolgt annähernd drei Stunden die bürokratischen Verschleißerscheinungen eines Wohlfahrtszentrum mit, das unter zeitlicher Bedrängung permanent Aufschub produziert.

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Sechs Stunden lang beschäftigt sich Near Death (1989) mit der Frage, wie man mit sterbenskranken Patienten in einem Bostoner Krankenhaus verfährt.

Die Retrospektive im Filmmuseum macht nun aber auch deutlich, dass Wiseman nicht nur der Dokumentarist der Institutionen ist. Gerade seine späteren Filme zeigen überdies eine Gesellschaft auf, die von der umfassenden Kommodifizierung des Lebens geprägt ist.

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The Store (1983) dringt in die Räume eines Luxuskaufhauses in Dallas ein. Verkaufsgespräche mit der Kundschaft wie auch die internen Sitzungen werden protokolliert, in denen die Steigerung der "Sales" die einzige Maxime ist.

Geschlossene Welt

Die imaginäre Welt der Waren, durch die Menschen wie die Zombies aus George A. Romeros Dawn of the Dead flanieren, zeigt Wiseman als geschlossenen Kreislauf, ...

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... der ähnlich funktioniert wie der Zoo in Florida, den er zehn Jahre später porträtiert; beide Orte sind artifiziell, darin repräsentativ für einen postkapitalistischen Lebensstil, in dem das "Wirkliche" kaum mehr auszumachen ist – womit der Dokumentarist vor der Aufgabe steht, den Simulationsprozess zu begleiten.

Bis 5. März im Filmmuseum

Am Sonntag, den 27. Februar, wird Frederick Wiseman um 18:30 ebendort eine Lecture halten.

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(DER STANDARD, 11.2.2005)

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