Wie zu Faschingsgirlanden aufgewickelt können sich Proteine zeigen. Dass die Eiweiße eine unfassbare Vielfalt aufweisen, entdeckte man erst vor wenigen Jahren – als die Proteomik einen weltweiten Boom erfuhr.

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Im jungen Forschungsfeld der Proteomik, das sich dem Wesen und der Funktion der Eiweiße widmet, versuchen Wissenschafter herauszufinden, was im Inneren von Zellen vor sich geht. Dieses Wissen soll die Entwicklung neuer Medikamente dramatisch beschleunigen.

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Die Hoffnungen waren hoch gesteckt: Als im März des Jahres 2000 der frühere US-Präsident Bill Clinton und der britische Premierminister Tony Blair die (beinahe) vollständige Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes, des Genoms, bekannt gaben, da erwarteten viele Beobachter eine regelrechte Revolution in der Medizin. Mittlerweile hat sich ein wenig Ernüchterung breit gemacht. "Die Forschung steht in vielen Bereichen erst am Anfang. Der genetische Code, wie er derzeit vorliegt, gleicht einem Wörterbuch", sagt der Krebsforscher Lukas Huber von der Universitätsklinik in Innsbruck. "Man kann hier zwar einzelne Worte lesen, aber sie ergeben einfach noch keinen zusammenhängenden Sinn."

Der Wissenschaftszweig, der sich mit der Suche nach diesem Sinn beschäftigt, ist die Proteomik. Dabei geht es um die Erforschung jener Eiweißmoleküle, die in den einzelnen Zellen für die Umsetzung der genetischen Information zuständig sind. Noch vor zehn Jahren gingen die Wissenschafter davon aus, dass nach der Entdeckung aller Gene auch sämtliche in einer Zelle befindlichen Proteine aufgelistet oder entschlüsselt werden sollten. Weltweit machten sich damals unzählige Forschergruppen an die diffizile Arbeit.

An Österreich ging der Trend zunächst weit gehend spurlos vorüber. Geändert hat sich das erst vor drei Jahren, seither ist ein rasanter Aufholprozess in Gang gekommen. Die Aufgabe, der sich die Forscher im In- und Ausland stellen, ist enorm, aber voraussichtlich höchst lohnend. Schließlich sind es die Proteine, die in den Zellen jene Arbeit erledigen, die vom Erbgutmolekül DNA diktiert wird.

Gezielte Blockade

Wenn ihre Funktionsweise und ihr höchst komplexes Zusammenspiel erst einmal durchschaut wären, ließen sich maßgeschneiderte Arzneien entwickeln, um ganz gezielt jene Proteine zu blockieren, die für die Entstehung schwerer Krankheiten verantwortlich sind. Doch bis es wirklich so weit ist, wird noch viel Zeit vergehen.

Die Aufgabe, ein tatsächlich vollständiges Proteom des Menschen zu erstellen, ist so gewaltig, dass die Entschlüsselung des genetischen Codes dagegen wie eine Finger- übung zum Aufwärmen wirkt. Schließlich ist das Genom des Menschen stabil. In jeder einzelnen seiner rund 100.000 Milliarden Zellen trägt der Mensch eine identische Kopie seiner DNA. Diese ist zu etwa 25.000 bis 30.000 Genen aufgewickelt. Und diese Gene wiederum sind die Bauanleitungen für die Herstellung von verschiedenen Proteinen. Die bilden die Struktur einer Zelle, sie sind es, die als Enzyme für unzählige unterschiedliche chemische Reaktionen in der Zelle verantwortlich sind.

Viele Faktoren

Das Proteom - in Analogie zum Genom die Gesamtstruktur aller Eiweiße - ist dagegen höchst dynamisch, es kann sich innerhalb von Sekundenbruchteilen verändern. Welcher Teil der genetischen Information in der jeweiligen Zelle umgesetzt wird, hängt von vielen Faktoren ab. Zunächst geht es um die Aufgabe der jeweiligen Zelle: In Nervenzellen sind etwa sind ganz andere Gene aktiv als in Knochenzellen. Auch das Alter einer Zelle spielt eine Rolle: Soll sie sich bald teilen, oder wird sie demnächst absterben? Schließlich empfängt eine Zelle auch laufend Botenstoffe von außen, die sie zum Beispiel zur Produktion von Sekreten oder Hormonen anregt. Je nach Aufgabe der Zelle und Zeitpunkt werden also ganz andere Proteine hergestellt.

Insgesamt, so schätzen Forscher, finden sich in jeder einzelnen menschlichen Zelle 20.000 bis 40.000 unterschiedliche Typen von Proteinen. Manche sind klein und bestehen aus lediglich 50 Aminosäuren, andere aus mehreren tausenden. Dazu kommt noch, dass die Proteine von der Zelle durch das Anfügen oder Abzwacken von weiteren chemischen Bestandteilen noch weiter verändert werden können. Auf diese Weise kann ihre Aktivität gesteigert oder reduziert werden. Insgesamt stecken in einer einzigen menschlichen Zelle rund eine Milliarde einzelner Eiweiße - wobei viele erst dann ihre Funktion ausführen können, wenn sie sich mit anderen zu Proteinmaschinerien zusammenschließen. "Die ursprüngliche Idee, ein vollständiges Verzeichnis aller Proteine zu erstellen, hat sich angesichts dieser Fakten als unpraktikabel erwiesen", sagt Karl Mechtler, Proteom-experte am Wiener Institut für Molekulare Pathologie (IMP).

Statt eines vollständigen Verzeichnisses des gesamten Proteoms versuchen die Wissenschafter heute, nur jene Proteine zu finden und zu untersuchen, die für ihre jeweiligen Fragestellungen relevant sind.

Neue Perspektive

"Wenn wir die Prozesse bei der Entstehung von bestimmten Krebsarten verstehen wollen, dann beobachten wir nicht 40.000 verschiedene Proteine, sondern nur wenige Hundert", erklärt Mechtler. Mit dieser neuen, konzentrierteren Perspektive sollen nun die Versprechungen der so genannten genetischen Revolution eingelöst werden. Zumindest ihre Vorarbeiten haben die Genetiker schon erledigt: Sie haben bis heute nicht weniger als 4700 Gene und Genabschnitte gefunden, die in irgendeiner Art und Weise für die Entstehung von Krankheiten verantwortlich gemacht werden können. Jetzt geht es darum herauszufinden, wie diese Genabschnitte das Proteom beeinflussen - und wie das durch neue Medikamente verhindert werden könnte. (Gottfried Derka/DER STANDARD, Printausgabe, 5./6. 2.2005)