Paris/Berlin - Das in der Rede zur Lage der Nation dargelegte Regierungsprogramm von US-Präsident George W. Bush für die zweite Amtszeit ist am Freitag Gegenstand zahlreicher Pressekommentare in Europa:

"France-Soir" (Paris):

"Trotz terroristischer Anschläge eine höhere Wahlbeteiligung als erwartet, Förderung der Demokratie, neue Regierung an der Macht - Irak 2005? Nein: Vietnam 1967. Im September 1967 geht der pro-amerikanische General Ngyen Van Thieu siegreich aus den Wahlen hervor. Ende 1967 gab es 500.000 US-Soldaten in Vietnam und der Sieg gegen den kommunistischen Norden schien noch möglich. Heute gibt es 150.000 US-Soldaten im Irak und das Weiße Haus hat kein Datum für den Rückzug genannt, obwohl Bush die Wahlen vom 30. Jänner einen 'überwältigenden Erfolg' nennt. (...) 1967 sprach US-Präsident Lyndon B. Johnson vom 'Mut der Vietnamesen, frei zu bleiben'. Die Niederlage in Vietnam, nach der die gedemütigten Amerikaner im April 1975 überstürzt aus Saigon abzogen, ist heute ein Tabu für die Bush-Regierung, zumal der Präsident es damals geschafft hatte, dem Krieg zu entkommen..."

"General-Anzeiger" (Bonn): Bushs Realitätsschock im Irak

"Bush meint es ernst mit der Welt der Freiheit. Besser gesagt: Er meinte es zwischenzeitlich erschreckend ernst. Doch der Höhepunkt dieses 'demokratischen Imperialismus' ist überschritten. Die Irak-Mission ist aus seiner Sicht zwar nicht gescheitert, aber sie ist auch in den Augen derer, die in Washington von einer neuen Weltordnung träumen, eine Entmutigung. Der Realitätsschock, den Bush und die Seinen im Irak erlebt haben, wird dafür sorgen, dass sich vergleichbare Abenteuer nicht wiederholen."

"Der Tagesspiegel" (Berlin): Sturheit, die seine Anhänger als Charakterstärke preisen

"Bush schert sich selten um Einwände. Er vertraut den Instinkten. Die drei wichtigsten Themen seiner Präsidentschaft verkündete er früh: Verbreitung der Demokratie, Kampf gegen den Terror, Reform des Sozialstaates. An ihnen hält er mit einer Sturheit fest, die seine Anhänger als Charakterstärke preisen und seine Gegner als Fanatismus verdammen. Ein reaktiver Präsident, der sich seine Agenda von tagesaktuellen Herausforderungen diktieren ließe, war er nie. (...) Begeistert, ja euphorisch wurden in Amerika die Wahlen im Irak wahrgenommen. Bis vor kurzen schienen alle Kriegsgründe perdu. Plötzlich riskieren viele Iraker ihr Leben für die Demokratie. Hat sich das Abenteuer doch gelohnt? Bush ist überzeugt davon, dass die Entwicklungen ihn tragen."

"Stuttgarter Nachrichten": Es ist eine Menge in Ordnung zu bringen

"Ein Neuanfang? So ist es wohl gemeint. Wenn die neue Außenministerin Condoleezza Rice gleich ihre erste große Auslandsreise zu einem ausführlichen Europa-Besuch nutzt, dann steckt darin neben der demonstrativen Geste auch die Anerkennung einer schieren Notwendigkeit: Es ist eine Menge in Ordnung zu bringen (...) In einem haben die Skeptiker wohl Recht. Das neue Zugehen der Amerikaner auf die Europäer, vor allem auf Frankreich und Deutschland, trägt eher die Züge des Gewährens einer zweiten, vielleicht letzten Chance. Über die Rollenverteilung zwischen Koch und Kellner lässt die neue alte amerikanische Regierung keinen Zweifel aufkommen. Das ist weder besonders charmant noch irgendwie angenehm. Aber es ist Ausdruck realpolitischer Verhältnisse und insofern kein Grund zum Lamento."

"die tageszeitung" (taz) (Berlin): Berlusconi weiß genau, dass ihn nicht Bush wieder wählen kann

"Nur einer hält noch treu und fest zu den USA: Silvio Berlusconi. Italiens Ministerpräsident lobt Bush tagtäglich über den grünen Klee, und über einen Abzug der italienischen Soldaten aus dem Irak diskutiert Roms Regierung gleich gar nicht: die bleiben, solange Bush es will. Bushs Außenministerin, die heute in Berlin erwartet wird, sollte sich auf ihrem ersten Europatrip im Amt nicht zu früh über den römischen Zuspruch freuen. Dort werden den Worten kaum Taten folgen. Schon der Irak-Krieg war in Italiens Bevölkerung äußerst unpopulär; noch unpopulärer wäre ein Krieg gegen den Iran. Und Berlusconi weiß genau, dass ihn nicht Bush wieder wählen kann im Jahr 2006, sondern nur Italiens alles andere als kriegslustigen Bürger..."

"Handelsblatt" (Düsseldorf): Bush sagt Amerikanern nicht die volle Wahrheit

"Am schwersten wiegt, dass Bush den Amerikanern bei der größten Sozialreform seit 70 Jahren nicht die volle Wahrheit sagt. Der Präsident verspricht, die US-Bürger würden mit der Privatrente ebenso gut, wenn nicht besser fahren. Seine Administration kalkuliert dabei mit einer Netto-Gesamtrendite von etwa 4,6 Prozent für die privaten Altersanlagen. (...) Spätestens von dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes wissen wir, dass die Zukunft grundsätzlich unbekannt ist. (...) Die ökonomische und politische Redlichkeit gebietet es jedoch, die Wähler auf die Risiken der Rentenreform hinzuweisen."

"Dagens Nyheter" (Stockholm): Innenpolitik wird zweite Amtszeit von Bush klar dominieren

"Die Innenpolitik wird die zweite und letzte Amtszeit von Bush wohl klar dominieren. Auch sein Bericht zur Lage der Nation hat keinen Anlass zu anderen Erwartungen gegeben. Bush präsentierte eine ehrgeizige Tagesordnung und sprach von der Schulpolitik, dem Gesundheitswesen, der Zuwanderung. Er will für eine Verfassungsänderung eintreten, wonach die Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden kann. Vor allem aber soll das Rentensystem reformiert werden. Dass Bush hohe Ziele hat, ist symptomatisch für seinen Führungsstil. Er hat Visionen, setzt hoch und bekommt oft seinen Willen."

"Volkskrant" (Amsterdam): Ein Plan mit vielen Haken und Ösen

"Es ist ein Plan mit vielen Haken und Ösen, über die Bush in seiner Ansprache wenig Konkretes sagte. Er versicherte nur, dass nachteilige Folgen nicht zu befürchten seien. So wie er auch das enorme Haushaltsloch unerwähnt ließ. (...) Das Schreckgespenst von Ungewissheit im Alter lässt sich leicht herbeirufen, wie die Vergangenheit mehrfach gezeigt hat, und die Älteren sind bei Wahlen ein gefürchteter Block. Die zögernden Reaktionen republikanischer Kongressmitglieder belegen, dass diese neue Mission sicher kein ausgemachtes Rennen für Bush ist."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ): Zusage erneuert, das Defizit bis zum Jahr 2009 zu halbieren

"Der Präsident, der die amerikanische Wirtschaft als gesund und führend in der Welt bezeichnete, ging nicht auf Schätzungen ein, wonach die Einnahmeausfälle den Haushalt auf Sicht von zehn Jahren mit zusätzlich 1 bis 2 Billionen Dollar belasten werden. Stattdessen erneuerte er seine Zusage, das Defizit, das im vergangenen Jahr den Rekordbetrag von 413 Milliarden Dollar oder 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht hat, bis zum Jahr 2009 zu halbieren. Die amerikanische Regierung rechnet im laufenden Haushaltsjahr mit einem weiteren Anstieg des Defizits auf rund 420 Milliarden Dollar. Unterdessen hat sich der Produktivitätsfortschritt in der amerikanischen Wirtschaft verlangsamt." (APA/dpa)