In ungewohnter Pose: Viktor Orbán.

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Appell an den Feind: Gáspár Miklós Tamás.

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Selten hat man einen so zahmen und meditativen Viktor Orbán erlebt wie neulich morgens bei einem Pressefrühstück im Budapester Gellért-Hotel. Ja, freilich, die wirtschaftliche Situation in Ungarn werde "immer schlimmer" angesichts des Haushaltsdefizits, aber irgendwie sei es im Augenblick schwierig, den Punkt zu finden, wo die Opposition den sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány am besten angreifen könne.

Also sprach Orbán. Er fühle sich wie ein "junger Veteran". Oder, mochte man hinzufügen, wie der über allem schwebende Landesvater, der er immer sein wollte, dem aber die Kinder und Enkel abhanden gekommen sind.

Orbán, Vorsitzender der rechtskonservativen Oppositionspartei Fidesz, des Bundes der Jungdemokraten, immerhin Chef der Opposition, immerhin jener geborene Kämpfer, der es 1998 durch Bündelung der zersplitterten Rechten an die Macht schaffte - dieser Orbán ist nun offensichtlich ratlos. Ratlos und schweigsam. Er meidet Auftritte im Parlament und überlässt das Opponieren der zweiten Führungsebene in der Partei.

Seine Kampagne zur missglückten Volksabstimmung über die Staatsbürgerschaft für Auslandsungarn führte der Oppositionschef unlogischerweise vor allem bei Besuchen im Ausland, und nicht zu Hause, wo das Thema zur Entscheidung anstand.

An der Basis werden kritische Stimmen laut, doch Orbán ist so still, dass neulich einer seiner besten Feinde, der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, es nicht mehr aushielt. "Reiß dich zusammen, Alter, du wirst gebraucht", schrieb er ihm in einem offenen Brief. Orbán habe weder als Regierungschef noch jetzt, als Oppositionsführer, verstanden, dass Opposition zur Demokratie gehöre.

Orbán wurde früher mit einem Tiger verglichen, der schlau abwartend um sein Opfer streicht, um im passenden Moment zuzubeißen. Doch tatsächlich hat Orbán in dem erst seit vier Monaten regierenden Gyurcsány einen Widerpart, der - bei all seiner Dynamik - als Gegner konturlos ist.

Gyurcsány, anders als Orbán kein Berufspolitiker und daher unverbraucht, reißt alle Themen an sich, und zwar postmodern ideologiefrei. Er stielt dem Oppositionsführer mit seiner Jugendlichkeit die Show und legt in den Umfragen laufend zu.

Gyurcsány ist so oft in den Medien präsent, dass es selbst der liberalen Wochenzeitung Elet és irodalom (Leben und Literatur) zu viel wurde. Dies sei schon fast so "überflüssig" und "unsympathisch" wie die Mediendominanz Orbáns als Regierungschef, schrieb die elegante Kulturzeitung.

Trotz der Moll-Tonlage, mit der Orbán derzeit operiert, ist allen klar, dass niemand im Fidesz seinen Platz einnehmen kann. Eher wird spekuliert, dass er die sozial-liberal Regierunskoalition mit deren haushaltspolitischem Kurs erst einmal ins Messer laufen lassen will. Die nächsten Wahlen finden erst 2006 statt. Bis dahin hat Tiger Orbán noch Zeit, seine Krallen auszufahren. (Kathrin Lauer/DER STANDARD, Printausgabe, 1.2.2005)