Meister der "Non-Fiction" in Rahmen des narrativen Kinos: Stanley Kubrick während der Dreharbeiten zu "2001 - Odyssee im Weltraum" (1965-68).

Foto: Stanley Kubrick Estate
Eine monumentale Ausstellung im Berliner Gropius-Bau befasst sich - parallel zur demnächst startenden Berlinale - mit dem Nachlass des 1999 verstorbenen US-Filmemachers Stanley Kubrick.

Als Stanley Kubrick am 7. März 1999, kurz nach der Fertigstellung seines letzten Films, Eyes Wide Shut, überraschend starb, hinterließ er einen umfangreichen Nachlass.

Kubrick war bekannt als äußerst penibler Vorbereiter seiner Projekte. Aber erst seit das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt/Main systematisch erschließt, was in der Wunderkammer des amerikanischen Filmemachers überliefert ist, lässt sich abschätzen, welche unbekannten Meisterwerke nie über die Phase der Planung hinauskamen.

Die maßgebliche Rolle des Deutschen Filmmuseums bei der Erschließung hat persönliche Gründe. Ausschlaggebend war eine Bekanntschaft mit Kubricks Erben, die auf eine Ausstellung über den Filmarchitekten Ken Adam zurückgeht. Aus dem Material, das nun auch die große Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt, ist das Verständnis des Künstlers Kubrick nicht zu revidieren. Es gewinnt aber auf jeden Fall an Komplexität.

Ein Beispiel: African Genesis hieß ein in den Sechzigerjahren populäres Sachbuch. Robert Ardrey erzählte darin die Evolution des frühen Menschen. Ardrey schrieb anschaulich, im historischen Präsens des fiktiven Augenzeugen, über die Menschenaffen: "Wenn zwei Gruppen einander wahrnehmen, jede an der Grenze ihres Territoriums, brechen sie in heftiges Gebaren aus." Der Satz klingt, als wäre er direkt in das Drehbuch zu 2001 - A Space Odyssee übernommen worden, dessen Prolog in Afrika spielt.

"Non-Fiction"

Tatsächlich hat Kubrick, wie dem Nachlass zu entnehmen ist, African Genesis gründlich gelesen und viele Unterstreichungen vorgenommen. Man kann dies als eine symptomatische Lektüre nehmen, denn sie macht anschaulich, dass es ihm in hohem Maß um die Verarbeitung von Information ging, um eine spezifische Form von "Non-Fiction" innerhalb des narrativen Kinos. An der Sciencefiction von Arthur C. Clarke, der die Vorlage zu 2001 schrieb, hat ihn fasziniert, dass sie für ihre Voraussagen wissenschaftliche Plausibilität beanspruchte. Ardreys Buch ist gattungslogisch verwandt, auch seine Mutmaßungen über das Sozialleben des ganz jungen Homo sapiens leben von der Fantasie dessen, der dürftige Fakten ausmalen muss.

Mit diesen Textsorten war Kubrick in seinem Element. Gegen den fehlerhaften Computer HAL hält er auch in 2001 das menschliche Subjekt Dave Bowman als den größten Datenverarbeiter fest. Der Astronaut stürzt schließlich durch die Räume und Zeiten und wacht nicht zufällig an einem Ort auf, der auch als Raum in Kubricks Refugium im britischen Hertfordshire denkbar scheint. In diesem weitläufigen Anwesen liegt noch heute der Nachlass, teils sorgfältig archiviert, teils einfach verstaut und vergessen.

Zu Napoleon, einem seiner unrealisierten Projekte, hatte er zum Beispiel nicht weniger als 18.000 Abbildungen gesammelt, und eine Tag-für-Tag-Chronik des Lebens des französischen Thronusurpators anlegen lassen. Er hatte aber auch jene Simulationsspiele aus Pappe aufgehoben, mit denen Hobbystrategen in den 70er-Jahren berühmte Schlachten nachstellten.

Eigensinn und Geduld

Diese eigenwillige Mischung aus Datenpositivismus und Bildgedächtnis zeichnet die wichtigen Filme des späteren Kubrick aus, von den malerischen Banketten bei Kerzenlicht in Barry Lyndon bis zu den tiefgekühlten Orgien in Eyes Wide Shut. Die älteste Notiz zu dieser Verfilmung der Traumnovelle von Arthur Schnitzler datiert aus 1968: Der handschriftliche Eintrag "Rhapsody - 5/22 J. Cocks - agents says 40.000 but obviously high" bezieht sich zwar vermutlich nur auf eine erste Drehbuchfassung, für die Jay Cocks im Gespräch war. Aber er beweist, mit welch evolutionärer Geduld Kubrick an seinen Ideen gearbeitet hat.

An Vietnam (in Full Metal Jacket) interessierten ihn dieselben Rituale aus Rudelbildung und Ausstoßung, die er schon in der African Genesis gefunden hatte. Seine Filme sind dem Diorama, also einer Form der Wissensinszenierung als Zeitkapsel, näher als bürgerliche Erfahrungen der Zeit. In einer Fotografie des Hotels aus The Shining zeichnet Kubrick das, was die Natur vermissen lässt, einfach von Hand ein, wie ein Illustrator.

Dabei verlor er nie sein Interesse für die jeweils neuesten Technologien. Er arbeitete früh mit dem Computer, suchte den Kontakt zu Steve Jobs und las das Buch M.I.N.D. Children von Hans Moravec, als dieser Autor noch nicht zu den Stars der "dritten Kultur" zählte. Aber er blieb dabei ein Mann des 19. Jahrhunderts, orientiert an einer Anthropologie der Sichtbarkeit, die für das Unbewusste immer nach einem Zeichen im Realen suchte.

Aufschubstrategien

Nicht zufällig beschäftigte er sich immer wieder mit der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten, ohne jemals einen Film darüber zu realisieren. Bei dem Projekt einer Adaptation von Louis Begleys Roman Wartime Lies kam er diesem Vorhaben am nächsten. Aber auch hier sind die typischen Aufschubstrategien deutlich: Er hätte am liebsten Raul Hilbergs Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden verfilmt, dessen Materialreichtum in einem optischen Medium kaum zu vermitteln ist.

Er kam dabei aber über eine ganz fundamentale Ebene nicht hinaus: "Wie und warum es geschah, erscheint mir als die wichtigste Frage", steht auf einer Karte, die in seinem Exemplar von Hilbergs Buch überliefert ist. "Gibt es über die Konzentrationslager eine Geschichte, die etwas erzählt, was wert ist, gesagt zu werden?" Er scheint gespürt zu haben, dass er den Lagern mit seiner Methode eines an historischen Repräsentationen geschulten ahistorischen Realismus nicht gerecht werden konnte. Mit der Erschließung und Ausstellung des Nachlasses bekommt das bereits bekannte Werk Kubricks eine weitere Dimension, eine Spur des Zweifels in einer Geschichte visueller Gewissheit. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.01.2005)