Leopold Gratz, ehemals Wiener Bürgermeister, Minister und ein Typ, der mangels passenderer Adjektive gern als "schillernd" bezeichnet wird, wirft dem Bund Sozialdemokratischer Akademiker (BSA) ziemlich rüde die Mitgliedschaft hin. Siegfried Sellitsch, Versicherungsmanager und aus ähnlichem Holz geschnitzt, ein Macher wie Gratz und wie dieser seinerzeit, als Flügelkunde noch ein eifrig praktizierter Zweig der politischen Ornithologie war, eher am rechten Beugel der Sozialdemokratie angesiedelt, tat es ihm gleich. Das wären passende Belege für eine kleine Fußnote im größeren historischen Text, die etwa lauten könnte: "Die Sozialdemokratie und ihr Ärger mit den alten Männern."

Leicht fielen einem da viele ein, und größere Kaliber als Gratz und Sellitsch, die sich ja bloß aus dem BSA und nicht gleich von der SPÖ, zumindest äußerlich, verabschiedet haben: Da wäre naturgemäß der größte aller Grummler und Von-außen-herein-Polterer, Bruno Kreisky, der die SPÖ bis knapp vor seinem Tod mit dem lebenserhaltenden Zorn großer Patriarchen bedachte. Da wäre auch Franz Vranitzky, der, so hat es den Anschein, von Zeit zu Zeit das selbst auferlegte Gebot, nach der Politik wirklich nach der Politik sein zu lassen, brechen und eine Spitze gegen die Partei sowie die Zeitenläufte allgemein loswerden muss. Da wäre ein stiller Dulder wie Fred Sinowatz, der so abgeschieden vor sich hin leidet am Weh der Partei, dass er auch ein wenig betreut sein will. Und da wäre noch einer wie Hannes Androsch, der sich noch immer bei jeder passenden Gelegenheit lustvoll einmengt und in seiner natürlichen Eleganz ganz vergessen macht, wer hier, vom höchsten und längst verlassenen Punkt roter Macht aus gesehen, eigentlich spricht: Der einzige, um sein rechtmäßiges Erbe gebrachte Nachfolger des Sonnenkönigs.

Offensichtlich übte und übt die SPÖ samt ihren mittelbaren und unmittelbaren Organisationen eine so hohe Bindungskraft aus, dass sich ihre wesentlichen Protagonisten nur sehr schwer von ihr lösen können. Einer Politik, die inhaltliche Diskurse überlebenswichtigen Justierungen des richtigen "Spins" geopfert hat, könnten solche frei schwebenden Energien durchaus zu einer unverhofften und möglicherweise auch unverdienten Selbstfindung verhelfen, wenn sie bloß über den Anlass hinaus wahr- und ernst genommen würden.

Zugegeben, mancher der letzten Beiträge der angeführten Herren hätte es selbst auf nieder angesetztem Niveau schwer, einen bescheidene Ansprüche übersteigenden Erkenntniswert zu liefern. Aber prinzipiell wäre den Alten doch mit mehr als einem Ohr zuzuhören - und zwar nicht aus sozialer Rücksicht auf eine möglichst umfassende intellektuelle Vollbeschäftigung, sondern einfach deshalb, weil es der SPÖ nützen könnte.

Aber wer täte sich die Arbeit an? Der BSA wäre wohl am besten geeignet, gerade mit der und durch die Debatte um die braunen Flecken in der SPÖ. Bloß, über diesen Schatten zu springen fällt der Partei noch immer schwer. Zu lange hat es gebraucht, um einen ersten Schritt in Richtung einer historischen Wahrhaftigkeit zu setzen. Und dann: Wäre es nicht einfacher, die Dinge ruhen zu lassen und den Pragmatismus der Nachkriegsgeneration als unabänderliches Faktum hinzunehmen? Was im BSA und in der SPÖ gerade wieder aktuell wurde, ist ein kleiner, parteibezogener Ausschnitt einer größeren, auf kulturelle Nebenschauplätze der letzten Jahrzehnte verdrängten Auseinandersetzung, die, so lassen die vorliegenden Pläne befürchten, auch im heurigen Fest- und Bedenkjahr auf dem Hauptfeld des gesellschaftspolitischen Diskurses nicht geführt werden wird.

Warum das so ist, zeigt die Auseinandersetzung, zu der Gratz und Sellitsch die Fußnote lieferten, im Kleinen: Wir wollen im Grunde nicht erinnert werden. Wir wollen uns nicht erinnern. Wir haben keine Zeit für die alten Männer, uns ist egal, ob sie hereinplärren oder schweigen. In der SPÖ und anderswo. (DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.1.2005)