Das Interesse eines Choreografen und die Sensibilität des Pathetikers - hier in Viscontis "Gruppo di famiglia in un inferno" (mit Burt Lancaster und Helmut Berger)

Foto: Filmmuseum
Von "Bellissima" über "Rocco und seine Brüder" zu "Il gattopardo", den "Verdammten" und "Ludwig II": Das gewaltige, brisante Werk des italienischen Meisterregisseurs Luchino Visconti ist in diesem Monat im Österreichischen Filmmuseum neu zu überprüfen.


Wien - Das schönste Kind von Rom wird gesucht - "la bellissima". Es ist das Jahr 1951, die italienische Filmindustrie läuft gut, alle Welt möchte in Cinecittà arbeiten, als Friseur oder als Komparse, oder doch als Star? Eine resolute Römerin ist jedenfalls überzeugt, dass ihre Tochter das Zeug hat, die Blicke auf sich zu ziehen. Sie fährt hinaus zum Vorsprechen, aber der Regisseur bleibt ungerührt: Das Mädchen ist zu klein.

Der Krieg und der Faschismus liegen ein paar Jahre zurück. Italien blickt nach vorn, aber noch haben nicht alle genug zu essen. Die Kinder wachsen langsam. Es braucht den Blick des Kinos, um ihre Schönheit zu sehen: In Luchino Viscontis Bellissima wird das Starsystem mit dem Volk identifiziert.

Anna Magnani, die großartige Hauptdarstellerin, steht für die befreite Nation, die allmählich auf andere Gedanken kommt. Visconti zeigt, wie das kommerzielle Unterhaltungskino sich durchsetzt. Der Neorealismus hat seine Arbeit getan, hat eine Tradition des Widerstands begründet, die bis heute nachwirkt. 1951 machen sich Fellini, Rossellini und Visconti, die Rom zu einer offenen Stadt gemacht haben und dem Land seine Klassengrenzen aufgezeigt haben, je auf einen eigenen Weg.

Luchino Visconti, der 1906 geborene norditalienische Aristokrat, zieht in Bellissima eine Zwischenbilanz. Er vergleicht die ästhetischen Möglichkeiten. Anna Magnani sieht das Kino ganz praktisch: "Schau, die Planwagen", sagt sie zu ihrem Mann, als sie in einem Hinterhofkino unter freiem Himmel eine Szene aus dem Westernklassiker Red River sehen. Visconti sieht die Planwagen, aber er sieht mehr - ihn interessieren die Kräfte der Geschichte.

Drei Jahre nach Bellissima dreht er einen seiner schönsten Filme: Senso ist eine Romanze aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit der nationalen Erhebung gegen Österreich. Die Liebe der Contessa Sarpieri (Alida Valli) gilt dem k. u. k. Leutnant Mahler. Ein tragisches Ende ist unausweichlich. Visconti kommt aus einer Klasse, deren ästhetische Systeme mit Überhöhung arbeiten und aus der Zeit stammen, in der Senso spielt. Die Oper war seine zweite Heimat. Er hat sich eine Zeit lang davon entfernt, aber er kam darauf zurück.

In seinem filmischen Werk, das 1943 mit Ossessione begann, gibt es eine neorealistische Phase, die ihren Höhepunkt in La terra trema (1948) hat, dem Lebensdrama sizilianischer Fischer. Eine Periode der Klassik gipfelt in Il gattopardo (1963), nach dem Roman von Lampedusa. Und es gibt inmitten des Spätwerks eine "deutsche Trilogie".

Terror und Anziehung

Eine Faszination für den Nationalsozialismus hat Visconti nie verhehlt: "Der Nazismus", äußerte er einmal, "übte auf mich jene Art von Terror und geheimnisvoller Anziehung aus, die der Henker stets auf sein Opfer ausübt." Ein seltsames Spiel der Identifikationen klingt in diesem Satz an, denn weder musste sich Visconti als Opfer der NS-Diktatur fühlen (obwohl er im Zweiten Weltkrieg im besetzten Rom im Widerstand gewesen war), noch ging in den 60er-Jahren von Deutschland noch Terror aus.

Visconti suchte wohl eher nach einer Deutung des Nationalsozialismus, die seinen ästhetischen Vorlieben und seiner mondänen Gesellschaftskritik entsprachen. Er arbeitete mit dem Interesse eines Choreografen und der Sensibilität des Pathetikers.

Die "deutsche Trilogie" enthält drei Filme über den Todestrieb, der während der Reichseinigung (Ludwig II, 1973) verdrängt, in der Gründerzeitdekadenz (Tod in Venedig, 1971) wieder manifest wurde und schließlich auch die Unternehmerklasse nach 1933 (Die Verdammten, 1969) beherrschte. In einer Zeit, in der "Faschismus" für die Studentenbewegung zu einer allgemeinen Chiffre des historischen Verdachts wurde, suchte Visconti nach spezifischen Traditionslinien in Bezug auf den deutschen Untergang.

Statt eines historischen Subjekts fand er nur die zynische Paktbereitschaft des Kapitals auf der einen und ästhetizistische Größenfantasien schwacher Herrscher auf der anderen Seite. Visconti war Zivilisationsskeptiker. Das 20. Jahrhundert begriff er als eine Epoche der Schwäche. Die Achsenmächte hatten ihre Freiheitsgeschichte vergessen. Gegen diese Amnesie hielt er seinen Klassizismus.

Viscontis Genie ging vielleicht ein wenig zu weit: Er begriff die Grenzen des Neorealismus und begann dann damit, sein Kino mit Philosophie und Ornament anzureichern. Seine besten Filme handeln von Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig: In Rocco und seine Brüder (1960) wird der italienische Gegensatz zwischen dem armen Süden und dem industrialisierten Norden zum Drama der Anachronismen. Die Großfamilie bietet keine Geborgenheit mehr in dem Moment, in dem die Konkurrenzkräfte des Individualismus zu wirken beginnen. Es braucht eine starke Persönlichkeit, um sich in der Moderne zu behaupten.

Vielleicht ist deswegen die Anna Magnani aus Bellissima , die keine typische Visconti-Heldin ist, seine beste Filmfigur geblieben - eine Frau, die das sieht, was zu sehen ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 1. 2005)