Gabriel García Márquez,
Erinnerung an meine traurigen Huren.
Deutsch von Dagmar Ploetz. € 17,40/159 Seiten. Kiepenheuer & Witsch 2004.

Foto: KiWi

Ein Mann wird 90. Kein sehr glamouröser Lebensrückblick, den er da auf den ersten Seiten von sich gibt. Er wohnt allein in einem großen Haus aus der Kolonialzeit und hat für eine Provinzzeitung 40 Jahre lang Meldungen aufbereitet und Glossen geschrieben. Zwischen zwanzig und fünfzig hat er laut eigenen Aufzeichnungen mit "fünfhundertvierzehn Frauen" geschlafen und sie dafür immer bezahlt. Dazu einmal im Monat mit seiner Dienerin, "einen monatlichen Ritt, immer beim Wäschewaschen und immer verkehrt herum".

Nun beschließt der Ich-Erzähler, sich zum Geburtstag "eine liebestolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen zu schenken". Eine greise Puffmutter schafft das Objekt heran und präpariert es. Der Kunde findet eine kaum Vierzehnjährige vor, gewaschen und mit einem Schlaftrunk betäubt. Der Erzähler macht keinen Gebrauch von seinem Geschenk. Statt sie zu penetrieren, betrachtet er die schlafende Schöne, deren Namen er nicht weiß. Das Mädchen gerät zur stummen Projektionsfläche für die männlichen Phantasien und Erziehungsgelüste.

Márquez variiert das uralte Motiv alter Mann-blutjunges Mädchen ein weiteres Mal. Die bildenden Künstler leben davon genauso wie die Literaten. Selbstbestätigung, Jungbrunnen, Verdrängung der Todesangst, banale und mystifizierte Erklärungsversuche, zu denen eine harsche biologische hinzukommt.

Ältere Männchen suchen sich fruchtbare junge Weibchen, um ihre Gene noch möglichst weit zu streuen, junge Weibchen suchen ein etabliertes Alpha-Männchen, um in Sicherheit Brutpflege betreiben zu können. Márquez gelingt nun die heikle Balance zwischen Machotum, Selbstironie und einen guten Schuss Sentimentalität. Wohlkalkuliert bedient er sämtliche Klischees und tritt dabei doch ein paar Schritte zurück, um diese unglaubliche Geschichte aus sicherer Distanz zu betrachten. Was hat das zu bedeuten, dass der Erzähler das Geschenk nicht anrührt, vielmehr Nacht um Nacht über dem Schlaf des Mädchens, das er Delgadina nennt, wacht und dass er sie auch tagsüber nicht mehr aus seinem Kopf bekommt?

Die Seifenoper-Variante, die Márquez listig untermauert, lautet: Auch ein abgebrühter, emotional verhungerter Macho kann gar nicht alt genug sein, als dass er noch der Liebe verfallen könnte. Aber natürlich geht es hier eigentlich um Herrschaft, um das Beherrschen einer passiv gemachten Frau, einer Frau, die nicht Furcht erregend ist, weil sie sich weder wehren noch sich artikulieren kann. Nur die Bordellbesitzerin weiß etwas von den erbärmlichen Lebensumständen der Kleinen, sie macht die im besten Wortsinn Ohn-Mächtige erst real. Das Mädchen arbeitet im Akkord als Knopfannäherin, von Romantik keine Spur, aber das beschäftigt den Freier nicht. Der stellt sie sich lieber wach in seiner Bibliothek vor, mit wechselnder Augenfarbe, ganz wie's beliebt.

Die Geschichte ist wunderbar erzählt. Mit wenigen Sätzen entsteht die plastische Atmosphäre einer alten Villa, langer heißer Nachmittage, schmutziger Armenviertel und das Bild eines alten Mannes, der sich etwas kauft, sich lächerlich macht und das auch weiß. . ."mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25./26.12.2004)