Vor Weihnachten produzieren Luigi Baldari und seine Frau Maddalena solche "Seelen" in ihrer kleinen Werkstatt täglich zu dutzenden. Und schaffen ihnen auch den entsprechenden Leib: aus nichts als Pappmachébögen.
L'arte della cartapesta, die Kunst des Pappmachés, gehört bereits seit Jahrhunderten zum apulischen Alltag. Ursprünglich beheimatet im Norden Italiens, in Venetien, wo man schon im 14. Jahrhundert Spiegelrahmen und Zierleisten aus cartapesta fertigte, gelangte das Wissen über sie durch Auswanderer bis in den tiefen Süden.
Das Salento und vor allem die Barockstadt Lecce, in der Luigi und Maddalena zu Hause sind, wurden zur Hochburg der maestri cartapestai. Die ersten Meister arbeiteten nicht hauptberuflich, sondern verdienten ihr Geld als Barbiere. Neben dem Bartscheren und Haareschneiden fertigten sie allerlei Spielzeug wie kleine Pferde und Puppen aus den ihnen zur Verfügung stehenden "armen" Materialien: Strohpappe, Lumpen, Tierleim, Kreide, Wasser und Mehl. Zu Zeiten der Gegenreformation, als die katholische Kirche mit allen Mitteln versuchte, die Gläubigen zur Andacht zurückzurufen, kam, so heißt es, dem Bischof von Lecce solch eine leichtgewichtige Barbier-Kreation unter die Augen. Und brachte ihn auf die Idee, auch die in großen Mengen benötigte sakrale Zier aus cartapesta herstellen zu lassen.
Denn nicht nur würden die religiösen Plastiken aus Pappmaché weniger kosten, sondern zudem das Herumtragen bei Prozessionen buchstäblich erleichtern. "E una leggenda", erklärt Luigi, eine schöne Legende. Aber tatsächlich trugen die Barbiere seiner Heimatstadt lange Zeit den Beinamen Maestri Pietra degli Christi.
Und in vielen der zwanzig Lecceser Gotteshäuser sind die mannshohen Heiligenstatuen, obwohl sie eine steinern scheinende Oberfläche zeigen, nicht aus Stein oder Gips, sondern komplett aus Pappmaché. Derart von höchsten Geistlichen geadelt, emanzipierte sich die arte della cartapesta bald vom Straßenhandwerk zum Studienfach.
Die Ateliers vermehrten sich rasch. Nachdem alle Gotteshäuser prächtig ausgestaltet waren, geriet die Pappmachékunst jedoch allmählich wieder in Vergessenheit. Nur ein paar Restauratoren für die trotz Leimschutz doch fragilen Statuen wurden noch gebraucht. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer neuen Blüte, nahmen die Maestri wieder vermehrt Schüler auf. Heute üben fast 300 maestri cartapestai in der herrlich restaurierten Kirchenstadt Lecce und den Dörfern der Umgebung ihr Handwerk aus.
Luigi Baldari zählt mit seinen 62 Jahren zu den erfahrensten unter ihnen. Vor einem halben Jahrhundert bereits tat er den ersten Schritt in eine bottega, lernte den Draht zu biegen und das Stroh oder Papier darum zu drapieren für den Kern der Figuren; übte sich im Ausschneiden und Übereinanderkleben der verschiedenen Papierschichten für die Kleidung, im Formen winziger Gliedmaßen und Häupter aus Ton. Neffe Antonio darf heute gekauften Ton in die Modeln legen; sein Onkel hingegen blieb dem Elementaren treu. Als Einziger von all seinen Kollegen stellt er auch die Pappmachébögen selbst her - mit Pressen und Sieben wie im Mittelalter. Ab kommendem Jahr kann ihm jeder dabei in seinem "lebendigen Museum" über die Schulter schauen - ebenso wie dem Rest der Familie, der mit flinken Fingern, glühenden Eisen und einem Sortiment von Pinseln eine ganze Palette von cartapesta entstehen lässt.