Die Ängste vor großen Migrantenströmen tauchten noch bei jeder Erweiterung auf. Daher wurden gerade bei der Aufnahme von Staaten, deren Wohlstandsniveau weit unter EU-Durchschnitt lag, immer wieder Übergangsfristen für die Personenfreizügigkeit vereinbart. So wurden den Spaniern und Portugiesen beim Beitritt ihrer Länder auferlegt, dass sie sich für eine Dauer von zehn Jahren nicht in anderen EU-Ländern niederlassen und arbeiten dürfen.

Nachdem sich herausstellte, dass Spanien und Portugal eher zu Einwanderungs- als zu Auswanderungsländern wurden, wurden diese Übergangsfristen nach fünf Jahren beendet. Bei der Osterweiterung wurde die Übergangsfrist auf sieben Jahre festgesetzt. Übergangsfristen von sieben Jahren oder länger können auch für einen allfälligen Türkei-Beitritt vereinbart werden.

Sonderfall

Österreich wollte aber permanente Ausnahmen für die Personenfreizügigkeit durchsetzen, weil es Andrang von Türken auf den Arbeitsmarkt und Familiennachzug fürchtet. Das wäre allerdings ein dauerhafter Ausschluss der Türkei von einem EU-Grundrecht gewesen. Daher lehnten andere Staaten dies ab - und folgten einem Vorschlag der EU-Kommission: Demnach sollen dauerhafte Ausnahmen nicht der Normal-, sondern der Sonderfall sein. Wann ein solcher Sonderfall gegeben ist (etwa bei dramatischer Anspannung auf dem Arbeitsmarkt), kann die EU-Kommission bestimmen - und auf befristete Dauer die Personenfreizügigkeit aufheben.

Ansonsten ist im Gipfelbeschluss nur sehr vage formuliert, dass "spezifische Vereinbarungen in Erwägung gezogen werden" können. Der Charme einer solchen Formulierung: Sie fördert Kompromisse. Der Nachteil einer solchen Formulierung: Sie heißt alles und nichts.

Vage ist auch das Kriterium erwähnt, dass vor einem Türkei-Beitritt geprüft werden muss, ob die EU reif für die Türkei ist. Die Aufnahmefähigkeit der Union sei ein "wichtiger Gesichtspunkt", heißt es. Wie allerdings diese Aufnahmefähigkeit geprüft werden soll, das ist fraglich. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18./19.12.2004)