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Demonstration gegen den EU-Beitritt in Istanbul.

Foto: APA/epa
"Haben Sie schon gehört? Tayyip ist aufgestanden und gegangen. Das ist die letzte Meldung." Aufgeregt meldete der Kioskbesitzer im Bosporus-Vorort Cengelköy seiner Kundschaft den aktuellen Stand der Verhandlungen aus Brüssel. Wem immer seine Arbeit Zeit dazu ließ, der verbrachte den gestrigen Freitag entweder am Fernsehen oder ließ zu mindestens ein Radio mitlaufen.

Zwar war der bereits am frühen Mittag verkündete Abbruch der Verhandlungen durch den aufgeregten Kioskmann doch etwas verfrüht, doch der Mann mochte seinem Ministerpräsidenten selbst für den Fall eines Scheiterns in Brüssel keine Vorwürfe machen. "Die Bedingungen, die die EU stellt, sind doch wirklich unmöglich", meinte er. "Verhandlungen mit offenem Ausgang, keine finanzielle Unterstützung. Jetzt kommen sie mit den Griechen, danach kommen sie mit den Armeniern. Das hat alles doch keinen Sinn. Wofür brauchen wir das?"

Die Meinung des Kioskbesitzers kann an diesem Freitag als durchaus repräsentativ für große Teile der türkischen Bevölkerung gelten. Nachdem die Zeitungen am Morgen noch überwiegend positiv auf das Datum 3. Oktober - den in Brüssel beschlossenen Termin für den Beginn der Beitrittsverhandlungen - verwiesen hatten und das größte Blatt Hürriyet bereits von einem "Neuen Leben" titelte, machte sich im Laufe des Tages der Frust breit.

"Wenn wir jetzt die Griechen als alleinige Regenten auf Zypern anerkennen sollen und unseren Leuten dort damit in den Rücken fallen, dann sollten wir das lassen mit der EU", sagte ein anderer Passant dem Fernsehsender "sky tv". Als wenig später die Formulierungen der Gipfelerklärung in ihrer ersten Fassung bekannt werden, meinte ein anderer Passant nur: "Warum sollen wir Mitglied der EU werden, wenn es auf Dauer keine Freizügigkeit gibt? Für mich hat die EU dann keinen Wert mehr."

"Kommen Sie zurück"

Während Tayyip Erdogan und sein Außenminister Abdullah Gül noch fieberhaft verhandelten, trat Oppositionschef Deniz Baykal in Ankara bereits vor die Presse und forderte Erdogan auf zurückzukommen. "Kommen Sie nach Hause, und legen Sie die Frage der EU-Beitrittsverhandlungen auf Eis. Die jetzigen Bedingungen sind für die Türkei nicht akzeptabel."

Baykal hatte es bereits im Vorfeld abgelehnt, Erdogan nach Brüssel zu begleiten, da er strikt dagegen ist, dass die Türkei im Vergleich zu anderen Beitrittskandidaten Sonderbedingungen akzeptiert und sich damit zur "Konkubine" Europas macht.

Für Erdogan wäre es deshalb ein Leichtes gewesen, die Einladung der EU zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen unter den jetzt formulierten Bedingungen dankend abzulehnen und als stolzer Türke nach Ankara zurückzukehren. Es hätte seiner Popularität selbst bei Befürwortern eines EU-Beitritts kaum einen Abbruch getan, da insbesondere die Forderung der Europäischen Union, die Türkei solle die griechische Regierung Zyperns als rechtmäßige Administration der gesamten Insel anerkennen, hier auf völliges Unverständnis stößt.

Warum haben wir denn dann Jahrzehnte über eine Zypernlösung verhandelt, warum haben denn die türkischen Zyprioten im April mit großer Mehrheit dem UN-Friedensplan zur Wiedervereinigung der Insel zugestimmt, wenn wir dann jetzt, nachdem die Griechen ihre Zustimmung verweigert haben, Papadopoulos (den zypriotischen Präsidenten) anerkennen sollen?, fragen sich die meisten Türken.

Keine Begeisterung

Schon deshalb wird die nach langem Ringen dann doch noch gefundene Einigungsformel von Brüssel in der Türkei keine große Begeisterung mehr auslösen. Die historische Entscheidung, dass sich nach 40 Jahren die EU doch noch dazu durchgerungen hat, ihrem Dauerkandidaten vom südöstlichen Rand des Kontinents eine Zugehörigkeit zum Klub anzubieten, geht fast völlig unter im Gezerre um Sonderregelungen, Vorsichtsmaßnahmen und anderen Absicherungen und Vorbehalten.

Dieses sozusagen Kleingedruckte vermittelt dem normalen Zeitungsleser in Istanbul und Ankara vor allem eines: Die EU sagt nicht Nein zur Türkei, weil sie das in ihrem eigenen Interesse für schädlich gehalten hätte, aber sie sagt auch nicht wirklich Ja, sondern setzt darauf, dass die Türkei irgendwann entnervt selbst aufgibt.