Grafik: STANDARD/Beigelbeck
Auch nach dem Besuch des niederländischen Ratspräsidenten bleibt Wolfgang Schüssel hart: Türkei-Verhandlungen dürften nicht automatisch zum Beitritt führen. Diese Position wird von anderen Staaten bekämpft.

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Kurden demonstrieren vor dem Ratsgebäude, eine Großausstellung im Zentrum zeigt türkische Kunst: Die Türkei ist in Brüssel derzeit unübersehbar. Und die Präsenz wird deutlich erhöht: Mit einer Riesendelegation aus 165 Ministern, Beamten und Journalisten fliegt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch in Brüssel ein, um auf die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs zu warten. Diese legen am EU-Gipfel ab Donnerstag fest, ob, wann und unter welchen Bedingungen mit der Türkei Beitrittsverhandlungen starten.

Zentralfigur Schüssel

Jetzt, in den Tagen davor, sind aber alle Augen nach Wien gerichtet - auf Kanzler Wolfgang Schüssel. Hat sich doch Österreich als das Land positioniert, das am entschiedensten gegen die Automatik eines Vollbeitritts der Türkei Sturm läuft. Am Dienstag ist der niederländische EU-Ratspräsident Jan Peter Balkenende extra zu Schüssel gereist, um auszuloten, unter welchen Voraussetzungen Österreich ein Ja zum Verhandlungsstart mitträgt. Schüssel blieb auch nach dem Gespräch mit Balkenende hart: "Ich lehne eine Alles-oder-Nichts-Variante ab." Der Verhandlungsprozess müsse ergebnisoffen sein.

Genau diese Festschreibung eines möglichen Scheiterns der Verhandlungen lehnen andere Mitgliedstaaten vehement ab. Vor allem Deutschland, Großbritannien und Italien wollen Beitritt und nur Beitritt als Ziel verankert wissen. Aus Frankreich und Dänemark hingegen wird Österreich bedingt unterstützt. Die Mehrheit der EU-25 hingegen ist für das klare Ziel Vollbeitritt.

Neben seiner Funktion als Kanzler entscheidet Schüssel auch als Koordinator der Europäischen Volkspartei (EVP) zur Türkei mit. In Berlin werden von der rot-grünen Regierung und von den Oppositionsparteien CDU/CSU große Erwartungen in Schüssel gesetzt - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Wie aus Kreisen der Regierung dem STANDARD mitgeteilt wurde, "hofft man, dass sich Schüssel als EVP-Koordinator davon beeindrucken lässt, wie klar und präzise die Position des konservativen Balkenende ist". Beitrittsgespräche seien die logische Konsequenz aus bisherigen EU-Beschlüssen, an denen konservative Regierungschefs beteiligt waren.

Für die CDU/CSU formuliert Matthias Wissmann: "Man sollte sowohl über die Option Vollmitgliedschaft wie auch über die Option einer privilegierten Partnerschaft mit der Türkei verhandeln. Wenn nur auf Vollmitgliedschaft hin verhandelt wird, findet das keine Rückendeckung der CDU/CSU." Schüssel müsse das durchsetzen. Aber selbst deutschen Konservativen ist klar, dass ihre Forderung nach "privilegierter Partnerschaft" sich nicht wörtlich im Beschlusstext durchsetzen lassen wird. Brüssel mische sich nicht in deutsche Innenpolitik ein, sagen Diplomaten.

Neben den "offenen" Verhandlungen kämpft Schüssel noch für eine Hürde: Er verlangt permanente Ausnahmen bei der Personenfreizügigkeit - um die (Arbeits-)Migration aus der Türkei einzuschränken. Andere Mitgliedstaaten, darunter Irland und Portugal, wehren sich vehement gegen eine solche Lex Türkei - und haben zur Unterstützung ihrer Argumente einen Brief ausgegraben: Damals, 1999, versicherte Finnlands Paavo Lipponen als EU-Ratspräsident der Türkei den Kandidatenstatus "ohne Sonderbedingungen".

Darauf pocht die türkische Delegation in Brüssel. Und droht ihrerseits damit - ein unlauteres Verhandlungsangebot der EU abzulehnen. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.12.2004)