Wien - "Gute Musik muss laut sein!", verkündete eine liebe, Musik liebende Bekannte einmal provokant nach einem Konzert, in welchem in einer Tour nur gefiept, gesäuselt und gehaucht wurde, was bei Livepräsentationen von jahrhundertealtem Klangwerk mitunter vorkommen kann.

So Unrecht sie mit ihrem Pauschalverdikt hat, so sehr ist Lautstärke doch ein verlässlicher Applaussteigerer. Nicht nur bei musikalischen Darbietungen aus dem Bereich der kontemporären Populärmusik, nein, auch in den erlauchten Gefilden des klassisch-musikalischen Amüsements kann oft der uninspirierteste Topfen daherkommen - wenn er es im Ende nur laut genug tut, ist ihm die vehementeste Beklatschung sicher.

Das Kirov-Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg hat unter der wie immer flatterhaft-kurvigen, leicht irren Leitung Valery Gergievs bekanntes Klingendes aus der Heimat dargeboten: Es war oft ziemlich laut, und gerade deshalb nicht ohne Reiz.

Ein allgemeines Wort vorab: Der russische Orchestermusiker, er neigt in seinem professionellen Tun zu kraftvoller, direkter und, fast möchte man sagen: maschinell exakter Tongebung. Mit lustvollem Druck und konstanter Geschwindigkeit sieht man den Geigenbogen über die Saiten schießen, mit vitaler Energie spürt man den Luftstoß durch die Metallröhren preschen.

Was im Fall des Kirov-Gastspiels im Musikverein zum einen zur konkreten Folge hatte, dass die finalen morgenländischen Festlichkeiten in Nikolai Rimski-Korsakows Scheherazade ziemlich preußisch daherparadiert kamen, zum anderen aber auch, dass das wunderbare Sultan-Thema derart üppig daherbretterte, dass man meinte, ein Jumbojet startete gerade und man befände sich nicht in, sondern unmittelbar unter ihm.

Gibt es Beglückenderes? Wohl kaum. Prokofjews fünfter Symphonie, gut, hätte man mehr Differenzierung und Profilierung gewünscht, mehr Schärfe und Biss. Doch lehrt das musikkritische Leben dieselben Gesetzmäßigkeiten wie das allgemeine auch: Man kann nicht alles haben.

Tee, Kaffee und eine Zuckerfee gab es dann schließlich bei der Session der Russen am Sonntagvormittag: Mit altbekannt wundervollem Kling und Pling, Ratsch und Zupf erstand die Märchenwelt von Tschaikowskys komplettem Nussknacker vor den eigenen Ohren - im kompakten, gefühlsroutinierten Klangambiente der Sankt Petersburger.

Sei es, weil eine ballettlose Ballettmusik doch ihres zentralen aufmerksamkeitstragenden Pfeilers beraubt scheint, sei es, weil die herannahende Mittagsstunde den Gedankengang mehr und mehr vom Musikalisch-Geistlichen ins Leibliche schwenken ließ:

Die zwei Stunden zogen sich hin wie vier. Kein Pläsier. (Stefan Ender/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 12. 2004)