Bei aller besser oder schlechter formulierten Kritik an Elfriede Jelinek und ihrem Werk: Zu den größeren Peinlichkeiten in der Er- und Aufregung rund um den ihr verliehenen Nobelpreis zählt wohl das wiederholte Gemurre darüber, dass die Dichterin nicht nach Stockholm reiste und stattdessen eine in Wien aufgezeichnete Preisrede per Video "ausstrahlen" ließ. Da hätte sie doch gleich wie dazumal Jean-Paul Sartre auf die Auszeichnung und auf das Geld verzichten können! Selbst wenn die Tiraden gegen Jelineks Abwesenheit so satirisch daherkommen wie gestern jene von Eckhard Henscheid in der Welt, so triefen sie doch meist vor Moralinsäure. Was heißt, die "kann" nicht reisen?! - empören sich die Kritiker: Wer so viel Geld kriegt, muss es sich auch verdienen!

Es hätte jetzt sicher eine charmante Pointe ergeben, wenn Jelinek "brav" ein medizinisches Gutachten vorgelegt hätte, das sie wegen Agoraphobie von der Pflicht zur Reise befreit. Andererseits folgt sie aber durchaus einer Tradition von Abwesenheiten, die den jeweiligen Künstlern umso mehr Echo bescherten - und eine Präsenz, die in diesem Ausmaß erst im Zeitalter der Medien möglich geworden ist.

Der (von Jelinek übersetzte) US-Romancier Thomas Pynchon wäre hier zu nennen, der, ähnlich wie J. D. Salinger, konsequent jede Ablichtung seines Gesichts verweigert, deswegen umso mehr zur Legende wurde (und, weil er sie ja nicht abholt, ziemlich wenige Preise erhält). Da wäre Marlon Brando, der bei einer Oscar-Verleihung gar nicht erst auftauchte und stattdessen eine Indianerin über Genozide in den USA reden ließ. Und da wäre, als aktuellstes Beispiel, der dänische Regisseur Lars von Trier, der einer Vorführung seines Films Breaking the Waves in Cannes nicht beiwohnen konnte, weil er, von Reisephobie geschüttelt, auf einer Tankstelle in Norddeutschland festsaß. Dem internationalen Erfolg von Triers hat es keineswegs geschadet.

Insofern ist Elfriede Jelineks "Abwesenheit" reinster (und natürlich: neurotischer) Pop, so wie Brian Wilsons Wahnsinnsarien rund um den Niedergang der Beach Boys. Die Option erhöhter Vielschichtigkeit von Gegenwärtigkeit und Gegenwart, die sich durch solche "Störsignale" ergibt, will man so im deutschen Kulturbetrieb aber noch nicht gelten lassen.

In demselben Betrieb hat man sich aber auch schon darüber aufgeregt, dass in einer Jelinek-Inszenierung von Christoph Schlingensief (Bambiland am Burgtheater) kaum noch Text von Jelinek vorkam: Frechheit! Unfähigkeit! Fehlerhaftigkeit! Wertlosigkeit! - Mit solchen Prädikaten zielte man an der eigentlichen Intention der Künstler geradezu berufsblind vorbei, als wüssten die Kritiker frei nach Thomas Bernhard (Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?) längst, "was gespielt wird" bzw. was gespielt werden sollte. Damit sitzen sie leider automatisch zur falschen Zeit im falschen Stück. Und in diesem Fall hieß das Stück eben nicht "Elfriede Jelinek erhält einen Nobelpreis und feiert in Stockholm", sondern: "Öffentlichkeit und Sprache". (DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.12.2004)