Martin Buber

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Vor 100 Jahren, im Juli 1904, promovierte Martin Buber an der Universität Wien in Philosophie und Kunstgeschichte mit der Dissertation Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems ; im selben Jahr stirbt Theodor Herzl. So ist es zeitgemäß, jetzt in Wien, Ort der Begegnung zwischen Ost und West, die Visionen des Jüdischen Erbes in der Moderne anhand eines des wirksamsten Vertreter dieses Erbes, Martin Buber, einer Retrospektive zu unterziehen.

"Die Frage nach Möglichkeit und Wirklichkeit eines dialogischen Verhältnisses zwischen Mensch und Gott, also eines freien Partnertums des Menschen in einem Gespräch zwischen Himmel und Erde, dessen Sprache in Rede und Antwort das Geschehen selbst ist, das Geschehen von oben nach unten und das Geschehen von unten nach oben, hat mich schon in meiner Jugend angefordert." In diesen Worten beschreibt Martin Buber die Anfänge seines Denkens und bringt zum Ausdruck, was im platonischen Sternenhimmel so noch nicht gesagt worden ist: Möglichkeit und Wirklichkeit, das heißt Potential und Aktualität, sind immanent verbunden durch ein dialogisches Verhältnis zwischen Mensch und Gott, wobei der Mensch Gott nicht ebenbürtig ist, sondern trotz gerade dieser Tatsache der Asymmetrie zwischen Mensch und Gott eine freie Partnerschaft bestehen kann.

Es ist Buber immer wieder um die Grundfrage zu tun, ob es einen Dialog geben kann zwischen Himmel und Erde, ob die Schöpfung eine Offenbarung beinhaltet oder nicht; ob im Ich und Du Verhältnis nicht nur die ethische Beziehung zum anderen Menschen konstituiert ist, sondern auch "zu Wesen und Dingen, die uns in der Natur entgegentreten". Die Frage nach der Verbindung zwischen Mensch und Gott und Mensch und Welt ist für Buber eine Grundfrage des abendländischen Denkens - nicht nur des jüdischen -, da es im Mittelpunkt der Bibel als Grundkanon für das gesamte europäische Denken in seinen verschiedenen Ausprägungen steht. Die Traditionen, die Europa geprägt haben, die griechisch-römische, das Judentum, das Christentum und der Islam, stehen hier zur Debatte in der Begegnung im ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Es ist hier, wo das europäische Denken im Zwischen-Raum von Athen und Jerusalem seinen Ort hat.

"Insbesondere seit die chassidische Überlieferung mir zum tragenden Grund des eigenen Denkens gedieh, also seit etwa 1905, ist jene Frage mir zu einer innersten geworden." In der Einführung zu seinem Buch Die Legende des Baalschem (1907), wo es um den Unterschied zwischen Mythos und Legende geht, greift Buber diese Frage auf: "(...) die Legende ist der Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf". Buber erklärt, dass hier das dialogische Verhältnis in "seiner höchsten Ausgipfelung exemplifiziert" ist: "[D]ie wesenhafte Verschiedenheit" zwischen Mensch und Gott ist "ungeschwächt" geblieben, jedoch sogar in dieser "Nähe" bleibt die "Selbstständigkeit des Menschen" bewahrt. Wir haben uns fast daran gewöhnt, das Ich-Du-Verhältnis von Buber in religiöser Sprache zu verstehen, sicherlich auch, da Buber gerade im chassidischen Denken die Ausprägung seiner philosophischen Anthropologie am tiefsten erkannte. Aber was hier eigentlich vorgeht, ist eine grundlegende Kulturkritik, die die geläufigen Begriffe der europäischen Philosophie nochmals hinterfragt und Athen mit Jerusalem konfrontiert.

Problem des Messianismus und der Erlösung

Martin Buber vereint in sich diese beiden Teile des jüdischen Erbe Europas: "Ich bin ein polnischer Jude, zwar aus einer Familie von Aufklärern, aber in der empfänglichen Zeit des Knabenalters hat eine chassidische Atmosphäre ihren Einfluss auf mich ausgeübt." Das Problem des Messianismus und der Erlösung findet einen Ausdruck in allen Schriften Bubers, die die Existenz des Volkes Israel mit der Geschichte als Ort der Entscheidung konfrontieren. In den prophetischen Schriften findet Buber ein lebendiges Zeugnis dieser Konfrontation. In der Zwischen-Zeit, im Zeitbruch zwischen Anfang und Ende, steht der Mensch als Stadthalter der Zeit, Zeuge der Sorge um die Geschichte, um der Leidenden und Unterdrückten willen, ständige Aufgabe zur Verwirklichung des Guten in der Welt. "Nur aus der Erlösung des Alltags wächst der All-Tag der Erlösung." Wie Gott sein Schöpfungswerk jeden Tag erneuert, so bringt der Mensch durch sein Handeln diesen Anfang als das Gute in die Welt.

Diese schöpferische Tätigkeit ist für Buber geistiger Anstoß zum Zionismus, in dem Israel sich aus der Tiefe seiner uralten Eigenart neue Werte und Werke erkämpfen muss. Es ist ein "Kampf um Israel": "Zum ersten: ein Kampf nach außen, gegen jene Mächte des Zeitalters, die die uneingeschränkte Existenzberechtigung der jüdischen Lebensgemeinschaft, sei es in ihrer Diaspora, sei es in ihrer Zentrierung in der Urheimat, bestritten. Zum zweiten: ein innerer Kampf gegen jene Kräfte im Judentum selbst, die der Errichtung des Zentrums, der Errichtung ‚Zions’ widerstrebten. Zum dritten aber: ein allerinnerster, ganz wesentlicher Kampf, erst innerhalb der zionistischen Bewegung in der Diaspora, dann an politischem und wirtschaftlichen Realismus zunehmend, mitten im Werk an dem Aufbau des neuen Israel in Palästina. Dieser dritte Kampf, der entscheidungswichtigste von allen, steht im Zeichen jenes Wortes (Jes 1,27), in dem sich eine große politische und überpolitische Wahrheit ausspricht: Zion werde durch Gerechtigkeit erkauft werden. `Zion´ bedeutet im Munde des Propheten die Verwirklichung eines höchsten Wertes. Nur als solch eine Verwirklichung - das war in dem Spruch eingeschlossen - wird ein neuerbautes Israel dauern."

Bubers Zionismus steht somit unter dem Zeichen einer dreifachen Verbindung zwischen dem Volk Israel und dem Land Israel, die auch durch die Dreiteilung seines Schrifttums zum Ausdruck kommt, die erst in der Zusammenschau Bubers `Lehre´ zum Vorschein bringen: Es ging Buber nicht um eine politische oder soziologische Lösung, sondern um Erbe und Erneuerung, wo der Mensch danach strebt, durch sein Tun die Welt zu verändern, sich den historischen Bedingtheiten und Zwängen zu entziehen, da er unter der Unbedingtheit steht, offen für das Neue der Umwandlung, der Umkehr, welche aus der Krise, das heißt aus der Entscheidung, geboren ist. In den Philosophischen Schriften geht es Buber um die intellektuelle Krise nach Außen, in den Biblischen Schriften um die religiöse Krise nach Innen, in den Schriften zum Chassidismus um die Verbindung zwischen beiden und um einen Weg zur Lösung.

Überwindung theoretischer wie historischer Sicht

Es bedeutet die Überwindung einer rein theoretischen wie auch einer historischen Sicht, um zum lebendigen Urjudentum durchzubrechen, das er im Chassidismus verkörpert fand, welches Heilig und Profan, das Religiöse und das Soziale verbindet als ständige Sorge um die Welt. Hier wird die Bedeutung Martin Bubers nicht nur für das Judentum, sondern für die gesamte abendländische Tradition deutlich:

"Was ist es, was Europa fehlt? [...] Es hat das umfänglichste und ausgebildetste Wissen und findet aus sich nicht den Sinn; es hat die strengste und reinlichste Zucht und findet aus sich nicht den Weg; es hat die reichste und freieste Kunst und findet aus sich nicht das Zeichen; es hat den innigsten und geradesten Glauben und findet nicht den Gott. [...] Was ihm fehlt, ist die Ausschließlichkeit der Kunde vom wahren Leben, die eingeborne Gewissheit jenes `eins tut not´." Seine Betonung vom schaffenden Menschen bezieht sich nicht nur auf den Geist oder die Literatur, sondern auf deren Verwirklichung im Leben des Menschen, der seine Geschichte erzählt und damit die Schöpfung heiligt, ihr einen menschlichen Anfang verleiht.

Bubers Weg zum Zionismus zielt somit nicht wie bei Herzl in erster Linie auf das politische Ziel der Errichtung eines Judenstaates in Palästina, sondern auf eine jüdische Renaissance, die Umgestaltung der jüdischen Seele und des jüdischen Lebens durch eine Rückkehr zu den schriftlichen Quellen der Bibel und den örtlichen des Landes Israel: "Jedes Volk hat der Weltordnung nach einen Bund mit seinem Land. So hat auch das Volk Israel einen Bund mit dem Land Israel. Dies ist aber ein Bund von besonderer Art, denn es ist der Bundzweier `heiliger´ Wesenheiten, das heißt: zweier, von denen jede in einem besonderen und unmittelbaren Verhältnis zu Gott eben in einem Bund mit Gott steht."

Mit einem vorhersehenden Blick hat Buber die Gefahr der falschen Propheten gesehen, die von den Regierenden zur Funktion der Staatspolitik gemacht werden. Für Buber gibt es kein messianisches Ideal ohne die Sehnsucht nach Erlösung der Menschheit. Er plädiert für einen Hebräischen Humanismus, der ein Zurückgreifen auf die Ur-Sprache der Bibel ist, ihre Aufnahme um des normativen Wertes des biblischen Menschenbildes und der entsprechenden Scheidung zwischen dem zeitlich Bedingten und dem Überzeitlichen willen umfasst, aber am wichtigsten noch wegen dem daraus resultierenden Menschenbild als Maß für die besonderen Bedingungen, Aufgaben und Möglichkeiten der Gegenwart, um die Kluft zwischen Politik und Moral zu heilen. Wie der Seher von Lublin und der Jehudi, beide Namensträger der biblischen Erzväter Israels, Söhne und Enkelsöhne Abrahams, in Bubers Chronik-Roman "Gog und Magog" (1941), wusste er, dass der Weg erst das Ziel heiligt. Auch, dass die Völker erst dem wiederhergestelltem Zion zuströmen werden als dem "heiligen Berge", dem "Haus des Gottes Jakobs": "denn mein Haus, das Haus des Gebets wird es gerufen werden bei allen Völkern" (Jes 56,7).

Martin Buber sagte mal, er sei kein `Seher´, aber habe `sehende Augen´. Er verstand, dass Heiligkeit und Gerechtigkeit im jüdischen Monotheismus nicht zu trennen sind. "Wäre nicht das Land gewesen, die Väter wären nicht zur höchsten Heiligkeit gelangt, und so hat das Land sie hochgebracht", zitiert er Rabbi Loewe ben Bazalel, den Maharal von Prag. Martin Buber erkannte die Bedingungen dieser Heiligkeit und kommentiert in den 50er Jahren: "In den Vätern stellt das Wesen des Landes sich in menschlicher Gestalt dar. Das Land gehört zu den Vätern, denen es verheißen ward, aber auch die Väter zum Land. Darum besitzt Israel das Land nur, wenn und solange es, Israel, den Vätern gleicht; weicht es von ihnen und ihrer Art, dann hat es keinen Halt am Land mehr." So hat Martin Buber durch sein Denken und Wirken sich bis zuletzt bemüht, zwei Völker in einem Land zu versöhnen, eine Vision, die nun hoffentlich bald zu einem selbständigen Palästina neben dem Staat Israel führen wird. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 4.5.12.2004)