Die innere Stabilität der Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 gehörte bisher zu den wenigen Pluspunkten, die sich auch die Machthaber gutschreiben konnten. Wann immer im Westen Kritik an den dubiosen Herrschaftspraktiken geübt wurde, verwiesen die Vertreter des Systems auf die geostrategische Lage dieses größten europäischen Flächenstaates. Tatsächlich war es beim Zerfall der Sowjetunion vor 13 Jahren nicht selbstverständlich, dass die Ukraine als Staat überleben würde. Wirtschaftlich wie kulturell gibt es große regionale Unterschiede. Der ukrainische sprechende Westen ist klar proeuropäisch orientiert, im überwiegend russischsprachigen Osten mit seiner veralteten Schwerindustrie sind Sicherheitsdenken und Apparatschikmentalität noch weit verbreitet. Dennoch wäre es zu einfach, von einer unüberwindbaren Spaltung des Landes zu sprechen. Die offensichtlich gerade im Osten ganz massiven Wahlfälschungen zeigen, dass dort ebenfalls einiges in Bewegung gekommen ist. Sonst hätten sich die Machthaber getrost auf das zahlenmäßige Übergewicht verlassen können. Denn die Westukraine zählt weniger als ein Viertel der insgesamt knapp 49 Millionen Einwohner. Das wahre Ausmaß der Wahlmanipulationen wird sich nun an der Ausdauer zeigen, mit der die Opposition ihre landesweite Protestkampagne durchzieht. Davon wiederum wird die Reaktion des Machtapparats abhängen. Viktor Juschtschenko weiß, dass er eine realistische Chance hat, das Ruder herumzureißen. Wenn eine ausreichend große Zahl von bisherigen Systemprofiteuren zu dem Schluss kommt, dass es besser ist, sich auf einen Machtwechsel einzustellen, als eine Konfrontation mit ungewissem Ausgang zu riskieren, hat der Oppositionsführer gewonnen. Es wäre freilich nur ein Etappensieg. Denn die echte Überwindung des korrupten Systems wird ungleich schwieriger als ein noch so hart erkämpfter Wahlerfolg. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.11.2004)