Einsamkeit pur

Eigentlich gibt es diese Berge nicht, die man von der Spitze des Leuchtturms von Tranoy aus sieht. Es kann sie nicht geben. Sie sehen zu sehr nach Wunschvorstellung aus, nach Schattenriss, nach urzeitlichem Zackenkamm, der der Gedankenwelt eines Fantasy-Romanautors entsprungen sein muss. Diese Berge aber sind reales Bühnenbild für das Leben von Stig-Andre Lexberg und seiner Familie.

Der blonde Norweger betreibt den rotgeringelten Leuchtturm seit ein paar Jahren, und am liebsten sitzt er bei Sonnenuntergang oben vor den riesigen Spiegelreflektoren auf der Balustrade knapp 25 Meter über der Wasserlinie, lässt sich den kalten Wind um die Nase pfeifen und staunt herüber auf die steil aufragenden kargen Gipfel der vorgelagerten Lofoten-Inseln. "Ich könnte mir kein größeres Glück vorstellen als die ersten Frühsommertage bei stiller See und Sonne zu erleben", sagt er. An solchen Tagen ruft Stig Freunde in Oslo an und schwärmt von seinem Paradies 188 km nördlich des Polarkreises direkt am Nordatlantik. Inmitten der Einsamkeit. Irgendwo dort draußen vor dem Leuchtturm fließt der Golfstrom vorbei, der der Region relativ mildes Klima beschert - rund ums Jahr eisfreie See, Tagestemperaturen zwischen minus fünf im Winter und plus zwanzig Grad im Sommer.

Auf derselben geographischen Breite in Alaska oder Sibirien leben längst keine Menschen mehr. Zu feindlich ist das Klima dort. Stig ist von Beruf Aussteiger, obwohl er eigentlich Installateur gelernt und zunächst als Hotelpage in Oslo gearbeitet hat - bis sich die Chance bot, an den Polarkreis zu ziehen. Die Gemeinde Hamaroy wollte ihren Leuchtturm verpachten - komplett mit allen Nebengebäuden, mit vier Häusern, Insel und Motorboot. Stig hat keine Sekunde gezögert und zugegriffen. Das war 1993. Seitdem ist er dabei, die Häuser in Eigenarbeit zu restaurieren und in Ferienquartiere zu verwandeln. Ein Großteil der Arbeit ist inzwischen getan, die ersten Appartements sind fertig: Ferien auf der Leuchtturm-Insel im Fantasy-Land. Heute sind im Königreich an der Westflanke Skandinaviens noch rund hundert Leuchttürme in Betrieb - längst nicht mehr mit Parafin, sondern mit Strom betrieben und mit Speziallinsen ausgestattet, die das Licht mehrhundertfach verstärken. Um den Job des Wärters muss Stig sich nicht kümmern. "Sein" Turm ist voll automatisiert und wird aus Oslo ferngesteuert. Weniger als 40 Leuchtfeuer sind noch mit Wärtern besetzt - vor allem am stark befahrenen Oslofjord, durch den sich täglich Fährschiffe Richtung Hauptstadt zwängen.

Bald wird man über die weitere Verwendung vieler Leuchttürme nachdenken müssen, denn mehr und mehr Schiffe sind mit elektronischen Navigationshilfen ausgestattet und lassen sich via Satellit bei jedem Wetter bis auf erstaunliche neunzig Zentimeter genau navigieren. Zumindest die kommerzielle Schifffahrt wird schon bald nicht mehr auf die Türme angewiesen sein. Stigs Weg mag da Nachahmer finden, denn auf der Suche nach der Leuchtturm-Romantik vergangener Tage kommen Gäste aus ganz Europa, aus den USA und sogar schon aus Australien zum Turm von Tranoy. Für ab umgerechnet rund 500 Schilling gibt es ein einfach ausgestattetes Doppelzimmer, für rund 1200 Schilling ein schlichtes Appartement mit Küche und Bad. Tauch-Trips in die klaren und kalten Gewässer oder Touren per Boot zur Wal-Beobachtung hinaus auf den Nordatlantik können hinzu gebucht werden. Tagesbesuchern serviert Stigs Ehefrau Anne im urigen ehemaligen Bootshaus während der Sommersai-son von Juni bis August Mittag- und Abendessen - Lachs, Rentier oder Wildgans zum Beispiel.

Als ob man aus der Wirklichkeit in einen Winkel der Welt abtaucht, den es nicht gibt oder den man nur finden kann, wenn man ganz genau weiß, wo er ist: Leuchtturm-Ferien fernab vom Alltag, weit weg von Radio, Fernsehen und Telefon auf einem winzigen Eiland, das für eine Landkarte zu klein ist. Die Besucher lassen sich auch von Spuklegenden nicht schrecken: "Vor starken Stürmen zieht nachts eine alte Lady durchs Haus, die ihren Kopf unter dem Arm trägt. Sie schlägt warnend mit dem Hammer so stark gegen die Wand, dass der Hall das ganze Gebäude erbeben lässt." Stig blinzelt mit dem linken Auge. Der erste Leuchtturm von Tranoy stammt aus dem Jahr 1864, der heutige Turm wie die meisten Nebengebäude aus dem Jahr 1936. Er ist aus Gusseisen - ein Bautyp, der in England entwickelt wurde. Seit 1969 verbindet ein über 100 Meter langer Steg auf Betonstelzen die kleine Leuchtturm-Insel mit dem Festland.

Eine Bedingung hatte die Gemeinde gemacht, als sie den Turm verpachtete: Eines der Zimmer muss rund ums Jahr für ehemalige Leuchtturmwärter und ihre Familien reserviert sein und kostenlos zur Verfügung stehen - für Leute wie die 85-jährige Mona Schistad, die inzwischen ein paar Kilometer von hier im Binnenland lebt. Sie ist auf dem Leuchtturm aufgewachsen und war dort von 1918 bis 1936 zuhause: "Damals", erzählt sie, "kamen andere Kinder mit dem Ruderboot zum Spielen herüber. Bei Ebbe haben wir mit zurecht gebogenen Stecknadeln gefischt, und im Winter haben wir aus Kiefernadeln Nester für die Eiderenten gebaut. Die schönste Zeit meines Lebens habe ich dort verbracht." Monas Blick schweift durch das Wohnzimmer ihres Holzhäuschens, gleitet über Stickbilder von Großseglern, die an der Wand hängen und bleibt an einem alten Schwarzweiß-Foto des Leuchtturms von Tranoy haften. Ein Lächeln huscht über ihr freundliches, faltiges Gesicht, und ihre Augen beginnen zu strahlen.

Einen Mittelstreifen gibt es längst nicht mehr, Hinweisschilder nur selten, stattdessen Warnungen vor "Elchwechsel". Die Landstraße über die Halbinsel Hamaroy windet sich durch Wälder und Sümpfe, vorbei an steil aufragenden Bergen, wildbewegten Buchten und einsamen Bootshäusern. Eine Sandpiste führt kurz vor der Ortschaft Tranoy links ab in die Wildnis, schnurgerade ins Nichts. Genau dorthin, wo sich nur noch Muscheln an die Steine klammern und schillernde Moose den Granit hellgrün zum Leuchten bringen. Käme jemand vorbei und würde von feuerspeienden Drachen, von Meeresmonstern, von Kobolden und tanzenden Elfen erzählen - man würde ihm jedes Wort glauben. Die Kulisse stimmt, und es ist das selbe Bühnenbild wie für das Leben von Stig-Andre Lexberg, denn am Ende der sandigen Piste ist der Leuchtturm Tranoy Fyr in Sichtweite. Wer hier absteigt, hat viel Zeit zum Nachdenken.Wer hier wohnt, kann sich nachts von Wellenkrachen und pfeifendem Wind in den Schlaf singen lassen. Das Meer ist der Orchestergraben, aus dem heraus die Naturgewalten ihr spektakuläres Konzert entfalten - mit Paukendonner und Fanfaren. Eine bombastische Inszenierung unter der Regie des Windes. (Der Standard, Printausgabe)