Berlin - Angesichts einer vergleichsweise schwachen Konjunkturprognose fordern die fünf Wirtschaftsweisen weitere Reformen im Sozial-, Steuer- und Bildungssystem in Deutschland. Dies geht aus ihrem Jahresgutachten hervor, das der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder am Mittwoch in Berlin in Empfang nahm. Schröders bisherige Reformbemühungen vor allem für Arbeitsmarkt und Pension werden darin gelobt.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erwartet 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum für 2005 - deutlich weniger als die Regierung, die von 1,7 Prozent ausgeht. Dies führen die Wirtschaftsweisen aber hauptsächlich darauf zurück, dass weniger Arbeitstage zur Verfügung stehen. Die wirtschaftliche Dynamik an sich sehen sie im kommenden Jahr kaum geschwächt.

Niedriges Trendwachstum

Allerdings beklagen die Wirtschaftsexperten, dass es seit Jahren ein "niedriges Trendwachstum" in Deutschland gebe. Grund seien "binnenwirtschaftliche Fehlentwicklungen und Versäumnisse". Folglich fordern sie die Wirtschaftspolitik auf, weiter an einem "wachstums- und beschäftigungsfreundlichen Umfeld" zu arbeiten. Hier bleibe "noch vieles anzupacken".

Wichtigste Reformkandidaten sind aus Sicht der Wirtschaftsweisen die Kranken- und die Pflegeversicherung. Beim Umbau der Finanzierung des Gesundheitswesens lehnen sie allerdings sowohl das Unions-Modell der Gesundheitsprämie als auch die von rot-grün geforderte Bürgerversicherung in der jeweils reinen Form ab. Stattdessen stellen sie ein Mischkonzept der "Bürgerpauschale" zur Diskussion.

Sie soll - wie die Bürgerversicherung - die Grenzen zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung aufheben, also eine Pflichtversicherung für alle werden.

Beiträge vom Einkommen loskoppeln

Gleichzeitig soll sie - wie die Kopfpauschale - die Beiträge vom Einkommen loskoppeln und für alle unabhängig vom Verdienst vereinheitlichen. Bei einer kostenfreien Mitversicherung von Kindern wäre eine Pauschale von zunächst 198 Euro im Monat für jeden Erwachsenen nötig, heißt es im Gutachten.

Für den nötigen Sozialausgleich für Arme bei der Umstellung veranschlagen die Wirtschaftsweisen einen Bedarf von 30 bis 35 Mrd. Euro aus Steuern. Zur Gegenfinanzierung schlagen sie eine Erhöhung der Umsatzsteuer vor. Auch für die Pflegeversicherung stellen die Regierungsberater einen Pauschalbeitrag zur Debatte. Dieser müsste derzeit bei etwa 25 Euro im Monat liegen.

Im Bildungssystem fordern die Wirtschaftsweisen eine bessere finanzielle Ausstattung von Kindergärten und Schulen zu Lasten der Hochschulen, die zum Teil aus Studiengebühren finanziert werden sollen.

Umbau des Steuersystems gefordert

Gefordert wird zudem ein weiterer Umbau des Steuersystems und hier speziell der Unternehmenssteuern sowie ein Umbau der Finanzstrukturen innerhalb der Föderalismusreform. "Die Situation der öffentlichen Haushalte ist nach wie vor Besorgnis erregend", heißt es im Gutachten. Ob der von Finanzminister Hans Eichel vorgelegte Nachtragshaushalt 2004 verfassungsgemäß sei, sei zumindest fraglich.

Nach Darstellung der Wirtschaftsweisen wird die Bundesrepublik trotz aller Sparbemühungen 2005 das vierte Jahr in Folge gegen den Euro-Stabilitätspakt verstoßen. Sie rechnen nächstes Jahr mit einem Staatsdefizit von 3,5 Prozent. Bei der Arbeitslosenzahl befürchten die Wirtschaftsweisen erstmals das Überschreiten der Fünf-Millionen-Grenze, was allerdings weitgehend auf statistische Effekte zurückgehe. (APA/AP)