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Václav Havel

Foto: apa/epa/dolezal
Der fünfzehnte Jahrestag der "Samtrevolution" vom 17. November 1989 bietet uns Gelegenheit, die Bedeutung moralischen Verhaltens und freien Handelns zu überdenken.

Wir leben heute in einer demokratischen Gesellschaft, aber viele Menschen – nicht nur in der Tschechischen Republik – glauben noch immer, dass sie nicht die wahren Lenker ihres Geschickes sind. Sie haben das Vertrauen verloren, politische Entscheidungen wirklich beeinflussen zu können, von der Entwicklung, die unsere Zivilisation nimmt, ganz zu schweigen.

Während der kommunistischen Ära glaubten die meisten Menschen, dass die Bemühungen Einzelner, Veränderungen herbeizuführen, sinnlos wären. Die kommunistische Führung bestand darauf, dass das System das Ergebnis objektiver historischer Gesetze war, die nicht infrage gestellt werden konnten, und wer sich dieser Logik widersetzte, wurde bestraft – nur, um auf Nummer sicher zu gehen. Unglücklicherweise ist diese Form des Denkens, die die kommunistischen Diktaturen stützte, nicht gänzlich verschwunden.

Herabgesetzte Eigenverantwortung

So behaupten einige Politiker und Experten, dass der Kommunismus einfach unter seinem eigenen Gewicht zusammengebrochen sei. Wieder werden Eigenverantwortung und individuelles Handeln herabgesetzt: Der Kommunismus, so erzählt man, sei lediglich eine der Sackgassen des westlichen Rationalismus gewesen; deshalb habe es ausgereicht, passiv auf sein Scheitern zu warten.

Genau dieselben Leute glauben häufig an andere Erscheinungsformen des Unvermeidlichen, wie etwa die verschiedenen angeblichen Gesetze des Marktes. Da diese Art des Denkens individuellem moralischen Handeln wenig Raum lässt, werden Gesellschaftskritiker häufig als naive Moralisten oder als elitär verspottet. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum wir heute erneut Zeugen politischer Apathie werden. Die Demokratie wird zunehmend als bloßes Ritual angesehen. Ganz allgemein, so scheint es, erleben die westlichen Gesellschaften eine Art Krise ihres demokratischen Ethos und staatsbürgerlichen Engagements.

Es ist möglich, dass wir lediglich einen durch neue Technologien verursachten Paradigmenwechsel erleben und uns weiter keine Sorgen machen müssen.

Demokratie als Utopie der Dissidenten

Vielleicht jedoch geht das Problem tiefer: Global agierende Unternehmen, Medienkartelle und mächtige Bürokratien sind dabei, die politischen Parteien zu Organisationen umzuformen, deren hauptsächliche Aufgabe nicht länger im Dienst an der Öffentlichkeit besteht, sondern im Schutz bestimmter Klientelen und Interessen. Die Politik entwickelt sich zum Schlachtfeld von Lobbyisten; die Medien trivialisieren ernste Probleme; die Demokratie erscheint häufig mehr als virtuelles Spiel für Verbraucher denn als ernsthafte Angelegenheit für engagierte Bürger.

Als wir von einer demokratischen Zukunft träumten, hatten wir, die wir Dissidenten waren, mit Sicherheit einige utopische Vorstellungen – was uns heute durchaus bewusst ist. Wir lagen jedoch nicht fehl, wenn wir argumentierten, dass der Kommunismus mehr als eine Sackgasse des westlichen Rationalismus sei. Bürokratisierung, anonyme Manipulation und die Betonung des Konformismus der Massen wurden im kommunistischen System "perfektioniert"; vor einigen eben dieser Bedrohungen aber stehen wir auch heute.

Wir waren uns bereits damals sicher, dass eine ihrer Werte entleerte und auf den bloßen Wettkampf politischer Parteien mit "garantierten" Lösungen für alles reduzierte Demokratie ziemlich undemokratisch sein kann. Dies ist der Grund, warum wir so viel Wert auf die moralische Dimension der Politik und auf eine lebensstarke Zivilgesellschaft legen: als Gegengewicht zu den politischen Parteien und staatlichen Institutionen.

Traum von gerechter Ordnung

Wir träumten außerdem von einer gerechteren internationalen Ordnung. Stattdessen erleben wir heute einen Prozess wirtschaftlicher Globalisierung, der der politischen Kontrolle entglitten ist und daher in vielen Teilen der Welt ökonomisches Chaos und ökologische Verheerungen anrichtet. Wenn wir nicht von anonymen Gewalten überrannt werden wollen, müssen die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität – die Grundlage von Stabilität und Wohlstand in den westlichen Demokratien – weltweit umgesetzt werden.

Vor allem aber ist es – genau wie während der kommunistischen Ära – erforderlich, dass wir das Vertrauen in die Bedeutung alternativer Zentren des Denkens und des staatsbürgerlichen Engagements nicht verlieren. Wir dürfen nicht glauben, dass Versuche, die "etablierte" Ordnung zu verändern, sinnlos sind.

Für eine moralische Dimension der Politik

Wir müssen versuchen, eine globale Zivilgesellschaft zu errichten, und wir müssen darauf bestehen, dass die Politik nicht allein eine Technologie der Macht sein darf, sondern eine moralische Dimension haben muss. Gleichzeitig müssen die Politiker in den demokratischen Ländern ernsthaft über eine Reform der internationalen Institutionen nachdenken, denn wir benötigen verzweifelt Institutionen, die zu echter globaler politischer Führung fähig sind.

Wir könnten zum Beispiel mit den Vereinten Nationen beginnen, die in ihrer gegenwärtigen Form ein Relikt der Lage kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind. Sie reflektieren den Einfluss neuer Regionalmächte nicht und setzen in unmoralischer Weise Länder, deren Vertreter demokratisch gewählt sind, mit solchen gleich, deren Vertreter nur für sich selber sprechen.

Wir, als Europäer, haben eine ganz spezielle Aufgabe. Die industrielle Zivilisation, die heute die ganze Welt umspannt, hat ihren Ursprung in Europa. Alle ihre Wunder, aber auch ihre schrecklichen inneren Widersprüche lassen sich als Folgen eines Ethos erklären, das ursprünglich europäisch war.

Die Vereinigung Europas sollte deshalb ein Beispiel für die übrige Welt setzen, wie den Schrecken, die uns heute zu verschlingen drohen, zu begegnen ist. Tatsächlich wäre eine solche mit dem Erfolg der Europäischen Integration eng verbundene Aufgabe eine erheblich bessere Strategie, als die Probleme unserer modernen Welt einfach auf Amerika zu schieben. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.11.2004)