Auf über tausend Höhenmetern liegt das Tannheimer Tal in Tirol

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Drunter Heu und drüber Heu und dazwischen, eingepackt in Tücher, der nackte Körper. Auf Knopfdruck versinkt das alles in einem 38 Grad warmen Wasserbett, das gluckst und blubbert und leise schaukelt. Rasch tauen die vom Radeln eiskalten Zehen, Finger und Ohren auf, Rücken und Nacken entspannen sich, und bei gedämpftem Licht und ferner Musik driftet man einem wohligen Halbschlaf entgegen. Nach dreißig Minuten endet dieser Zustand: Dusche, Öl auf die Gliedmaßen, Rückenmassage. November im Tannheimer Tal.

Zum Radfahren braucht man schon gefütterte Leggings, Handschuhe und Ohrenschützer unter dem Helm. Die Herbstzeitlosen sind zu Boden gedrückt vom Schnee der vergangenen Nacht, Berberitzen und Hagebutten zerplatzen nach den ersten Frösten, und am Waldrand vermodern die letzten Blutreizker.

Bis zum Vilsalpsee ist die Straße asphaltiert, dann fester Sand und von der Alm weiter grober Schotter. Der Weg wird steiler; stellenweise von Schneematsch bedeckt führt er zu einem gewaltigen Talschluss mit imposantem Wasserfall. Am Rückweg geht der Nieselregen in Schneien über, die schwarzen Enten im See lassen sich davon nicht stören, ein paar Boote liegen ohne Ruder am Strand, die Fischerstube ist leer, das Postauto ins Tal ebenfalls.

Nesselwängle, Tannheim und Schattwald heißen die Orte im Tannheimer Tal. Jedes Tiroler Kind kennt sie vom Heimatkunde-Unterricht, ganz wenige haben sie aber selbst gesehen. Besiedelt vom Allgäu aus, gehörte das Tal zum Herzogtum Schwaben, bis es die Tiroler Landesfürsten durch Landkauf in ihren Besitz brachten, weil es als Handelsweg für den Salztransport wichtig war. Die Höhenlage jenseits der tausend Metermarke beschränkte aber die Landwirtschaft auf Viehzucht und Forstwirtschaft. Die Hauswände und Dächer sind mit Holzschindeln bedeckt, das gilt sogar für die Stromtransformatorenhäuschen und Touristen-Informationstafeln.

Die schmiedeeisernen Kreuze der allerheiligengeschmückten Gräber tragen Familiennamen wie Rief, Wötzer und Zobl, und so heißen auch die Transportunternehmen, Tischlereien und Familienpensionen, so ferne Letztere sich nicht Alpenland, Haus Tyrol oder Bergsee nennen. Jetzt im November sind sie alle geschlossen, der einzige offene Beherbergungsbetrieb in Tannheim ist der "Schwarze Adler". Dreihundert Jahre ist das Wirtshaus alt, aber 1992 wurde es vierstöckig und viersternig, mit Panoramapool unter dem Dach, mit Speiseräumen, die "Maria Theresia", "Gesindestube", "Dorfrestaurant" oder "Hühnerstall" heißen, mit Kaminclub und Adlerbar und Familien- und Luxussuiten.

Die Wirtin, eine fröhliche Rheinländerin, hat ein Faible fürs Alte: Kein Stiegenaufgang, kein Gangwinkel, den nicht ein Spinnrad oder gar ein altes MV-Augusta-Motorrad füllt. Auf Anrichten stehen Kinderherde aus dem 19. Jahrhundert, auf Fenstersimsen scharen sich Käthe-Kruse-Puppen. Was Frau Wirtin nicht selbst an Eschenholzskiern, Hanfkletterseilen oder genagelten Bergschuhen zusammengetragen hat, haben Stammgäste gestiftet: uralte Schreibmaschinen, fußgetriebene Singer- und Phoenix-Nähmaschinen und den einen oder anderen irdenen Schmalztopf.

Die eigentliche Attraktion des "Schwarzen Adlers" ist aber die "Lebensinsel", ein ausgedehnter Wohlfühlbereich voll der exotischen Überraschungen mitten in diesem Tal der Kühe, die, längst von der Alm abgetrieben, auf den Weiden das letzte Gras wiederkäuen, durch Elektrozäune von den Schafen getrennt, deren Fell langsam winterlich dicht wird.

Die "Lebensinsel" im Adler ist schon offen, und die Masseusen und Masseure warten mit ihren Ölen. Abhyanga, Shirodora, Shiroabhyanga und Mukabhyanga heißen die Varianten der ayurvedischen Ölgüsse. Pantai Luar und Pantai Herbal, mit Öl und Kräutern, stammen aus Indonesien. Aber der neueste Schrei kommt von indianischen Schamanen: Lomi Lomi Nui aus Hawaii. Ebenfalls angeboten wird die LaStone-Therapy, den Schamanen in Arizona abgeschaut. Dabei werden runde, schwarze Basaltsteine heiß gemacht, im Wechsel mit eisgekühlten, weißen Marmorkugeln auf oder unter dem Körper oder zwischen den Zehen platziert. Als der Masseur die Zeremonie mit einem Eistee beendet, sind eineinhalb Stunden verstrichen, und in der Dämmerung draußen ist der Regen wieder einmal in Schnee übergegangen. (Der Standard/rondo/12/11/2004)