Foto: Viennale
Einer alten Frau kommt in einer Parkanlage ihr kleiner Enkel abhanden. Ein Teenager, der seine Tage lieber in Spielhallen als in der Schule verbringt, muss feststellen, dass sein an Alzheimer leidender Großvater die gemeinsame Wohnung mit unbekanntem Ziel verlassen hat.

Zwei Geschichten vom Verschwinden. Zwei Anhaltspunkte in einem Film, der sich grundsätzlich weniger fürs Vorantreiben einer linearen Erzählung interessiert als vielmehr für fragmentarische Beobachtungen und deren punktuelle Verdichtung: Welche Konsequenzen können aus der Situation eines solchen unerwarteten Verlusts erwachsen? Wo kann man noch suchen, wen kann man noch fragen? Oder: wie reagieren die jeweils Angesprochenen und wie die Protagonisten?

Tragikomische Note

Die alte Frau beispielsweise – verkörpert von Lu Yi Ching – entwickelt mit der Zeit ungewöhnliche Initiative (der Film bezieht daraus eine leichte tragikomische Note). Ein junger Mopedfahrer wird samt seinem Fahrzeug kurzerhand gekapert. Ein Bäcker, der über einen Lautsprecher seine Waren anpreist, wird mit sanftem Druck dazu gebracht, die Suche per Lautsprecher zu unterstützen. Vermittelt wird diese Episode rein auf der Tonebene, zu sehen ist während dessen der Panoramablick auf das Stadtviertel.

Auch sonst geht die Kamera immer wieder zurück auf Distanz – zuvor schon hat sie, von einem fixen Standpunkt aus, die alte Frau bei ihrer immer verzweifelter werdenden Suche im Park beobachtet. Beim Abgehen, schließlich Abrennen der Anlage, beim Befragen unzähliger Passanten oder beim Einschalten der Parkaufsicht. Die beiden Geschichten berühren einander nur an den Rändern, über eine räumliche Nähe und ein paralleles, aber nicht geteiltes Schicksal in einer unwissentlich geteilten Einstellung. Ein möglicher Zusammenhang bleibt jedoch ungewiss.

Der Regisseur dieses Films ist nur als solcher ein Debütant: Der Schauspieler Lee Kang-sheng, (Haupt-)Darsteller in allen Filmen des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-liang und inzwischen mit diesem auch als Produzent tätig, hat sich für Bu jian / Missing ganz hinter die Kamera zurück gezogen.

Ähnlich wie die Filme seines langjährigen Partners, ist auch Bu jian geprägt von einer offenen, visuell orientierten Erzählweise, die das Publikum nicht zuletzt über ihre Auslassungen involviert: In diesem Fall beginnt man mit der Zeit die Perspektive der Suchenden und ihre Ungewissheit zu teilen. Bu jian lässt sich so auch als ein Krimi lesen – als ein gelassen ausgeführtes Spiel mit den erzählerischen Möglichkeiten des Kinos, die hier zwischen den Begrenzungen des Sichtbaren und dessen Aufladung mit dem, was unsichtbar bleibt, liegen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24.10.2004)