Den Atlas der verlorenen Heimat schreibend zurückgewinnen: Autor Zvi Jagendorf.

Foto: Aufbau Verlag

Zvi Jagendorf:
Die fabelhaften Strudelbakers
222 Seiten/ 18,90 Euro
Aufbau Verlag, Berlin 2004.

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Am Dienstag präsentiert er das Buch im Jüdischen Museum.

Wien – "Laufen konnte keine Ruinen wieder aufbauen oder Tote aufwecken oder auch nur irgendetwas bewirken. Es würde ihn nicht zu den Gärten bringen, in denen Wolfy und Bernie in der Dämmerung grüne Äpfel geklaut und dann die enttäuschend sauren, trockenen Bissen auf die feuchte Erde gespuckt hatten, denn diese Gärten waren der Photographie ihres Todes gefährlich nahe."

Gehend lassen sich die Bilder der Erinnerung nicht wieder gewinnen. Wohl aber Erkenntnis. Mit dem Gehen durch London, die entfremdete Stadt der Jugend, endet Zvi Jagendorfs Roman Die fabelhaften Strudelbakers. "Wie ein Mönch unterwarf er sich klaglos der Gesetzmäßigkeit des Gehens, das nach einer Weile zum Selbstzweck werden, sein Sehnen nach einem Ziel betäuben würde."

Weg nach Hause

"London ließ ihn im Stich. Er musste seinen Straßenatlas allein durchwandern und bei jedem Schritt mit der trotzigen Hoffnung ringen, am Ende vielleicht doch noch seinen Weg zurück nach Hause zu finden." Wo Zvi Jagendorfs Erzählung schließt, stand vielleicht deren Ursprung. Der vergeblich die Straßen der Erinnerung Durchwandernde erspürt den Atlas eines "zu Hause" in seinem Inneren: Und erdichtet ihn neu.

Mit 65 Jahren, als ihn die Lehrtätigkeit an der Hebräischen Universität in Jerusalem nicht länger vollkommen in Anspruch nahm, schrieb Zvi Jagendorf Die fabelhaften Strudelbakers. Ein spätes Debüt, das umgehend für den englischen Booker-Preis nominiert wurde und 2002 den fast ebenso renommierten Wingate Prize erhielt. In zwölf Episoden taucht der Roman ein in das Leben von Rosa und Mendel Gold, ihrem Sohn Bernie, Mendels Schwester Frida, deren Mann Chaim Helfgott und Sohn Wolfy, der Jahrzehnte später, dann bereits als Will Halfgo, gehend den Bildern der Vergangenheit nachspüren wird.

"Flichtlinge"

Die Familien Gold und Helfgott leben als ungeliebte "Flichtlinge" im Londoner Exil. Nach Wien, in ihre verlorene Heimat, führen nur mehr wenige Spuren in den zweihundert Seiten des Romans: Das Rezept für den titelgebenden Strudel, dessen kunstvolle Herstellung die fabelhaften Strudelbakers Rosa und Mendel allmonatlich als sinnlichen Höhepunkt ihres Ehelebens erfahren. Und der Tod des Onkels Kalman, der in den Erzählungen Fridas mythische Qualität gewinnt: 1937 befand sich Kalman auf dem Heimweg von einem samstäglichen Treffen mit alten Freunden aus Kindertagen, die gemeinsam den Sabbatausklang begangen hatten. Kalman starb, friedvoll, in der Straßenbahn. Ein Toter auf Reisen, ohne jegliches Gepäck. Als letzter der Familie verwurzelt in einem Gefühl stiller Zugehörigkeit.

Reise ohne Gepäck

Ein Sehnsuchtsbild der Vergangenheit für seinen rastlosen Großneffen Will: "Jedes Mal, wenn Will einen Job an den Nagel hängte, eine Stadt oder eine Frau verließ, erschien ihm Kalman als der wahre, der schwereloseste Reisende überhaupt und begleitete ihn durch seine Träume. Will wusste, dass er mit seiner Vorstellung von Kalman falsch lag, denn Kalmans Schwerelosigkeit war das genaue Gegenteil von seiner eigenen. Kein Gepäck zu haben war für Will die notwendige Voraussetzung zur Flucht, Kalmans leere Taschen dagegen waren Anker."

1936 in Wien geboren, wie Wolfy/Will als Kind mit seiner Familie ins Londoner Exil geflohen, wo er Anglistik studierte, heute in Israel lehrend und lebend, kehrt Zvi Jagendorf nun für einige Tage in die Stadt seiner Geburt zurück. Am heutigen Dienstagabend wird er den Roman Die fabelhaften Strudelbakers, der vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung im Berliner Aufbau Verlag erschienen ist, im Jüdischen Museum präsentieren. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.10.2004)