Auch in hohem Alter noch hellwach, charismatisch und spöttisch: Jean Rouch 2003 bei einer Werkschau am Filmfestival in Innsbruck

Foto: H C Leitich
"Wie lebst du?" Wie lebt es sich in Frankreich, noch keine zwei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs, während in Algerien bereits wieder gekämpft wird. Im Sommer 1960 – als Arbeiter, als Angestellte, als Handwerker, als Künstler oder als afrikanischer Student? Chronique d'un été , der Film den Jean Rouch gemeinsam mit dem Soziologen Edgar Morin und unter Mitwirkung von Marceline Loridan gedreht hat, beginnt mit ganz einfachen Fragen – nach dem persönlichen Glück (oder Unglück), nach den Bedingungen, unter denen Arbeit, Leben, Liebe stattfinden.

Die Filmemacher begeben sich in unterschiedliche Milieus, stellen Verbindungen her – sind selber immer wieder präsent und bringen die Personen, die zuvor Auskunft und Einblick gegeben haben, am Ende zu einer Sichtung des Materials zusammen. Die Reaktionen sind unterschiedlich – manche Entäußerung wird als zu deutlich, als "schamlos" wahrgenommen. Andere geraten in Verdacht, "gespielt" zu haben. Und gerade diese ambivalente Nähe von Spiel und dessen wahrhaftem Kern wird für die Regisseure schließlich ein entscheidender Anhaltspunkt sein.

Wirklich spielen

Cinéma verité, ein wahrhaftiges Kino – der Begriff, in anderem Zusammenhang von Morin geprägt, wird vor allem mit diesem Film in Verbindung gebracht. Die neuen technischen Möglichkeiten – leichte, mobile Aufnahmegeräte für Bild und Ton – erlaubten das Vorrücken der Filmemacher in neue räumliche oder soziale Zusammenhänge.

Aber weder Morin, der sich in den 50er-Jahren eingehend mit den Vermögen des neuen Mediums, mit den animistischen und metaphysischen Konnotationen des Kinos auseinander gesetzt hatte, noch Rouch glaubten an eine ungebrochene Übersetzbarkeit der Wirklichkeit in filmische Sequenzen:

Die Frage, die am Anfang von Chronique d'un été beiläufig fällt – inwiefern bereits die Anwesenheit einer Kamera das Geschehen und die Reaktionen der Menschen davor beeinflusst – ist eine grundsätzliche des dokumentarischen Kinos. Die Antworten darauf sind unterschiedlich.

Rouch selbst – geboren 1917 und im Februar 2004 tödlich verunglückt, Ethnograph und einer der wesentlichen Dokumentaristen des 20.Jahrhunderts – hat sich im Kontext seiner eigenen Arbeit zunehmend dafür entschieden, die Effekte des Apparats zu affirmieren und zu nutzen, seine Protagonistinnen und Protagonisten zum Spielen zu animieren. Aufgesucht hat er sie nicht selten in Afrika, zumal im Niger. Und sein Interesse galt nicht zuletzt den Ritualen – wie zum Beispiel in Les maitres fous (1955), in dem sich eigentümliche Transformationen vollziehen.

Die neuen technischen Möglichkeiten hat er dafür verwendet, sich als wendige Ein-Mann-Einheit zu konfigurieren, die sich dem Geschehen in beobachtender Anteilnahme und "dynamischer Improvisation" nähern sollte. Die Kamera hat Rouch als einen Beschleuniger oder einen Katalysator verstanden: "Eine Art von Katalysator, der uns – mit Zweifeln – erlaubt, einen fiktionalen Teil von uns selbst zu enthüllen, der für mich der allerrealste Teil eines Individuums ist."
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2004)