Bild nicht mehr verfügbar.

Frei Betto mit Präsident Luiz Inacio Lula da Silva

Foto: APA/EFE/Ernesto
Wien – Mehr als 100.000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger, sagte der brasilianische Dominikanerpater Frei Betto, 60, kürzlich bei Vorträgen in Wien. "Das sind weit mehr Tote, als durch Krankheiten, Unfälle, Krieg und Terror zusammengenommen." Da der Hunger, als einzige dieser Todesursachen, ausschließlich die Armen betreffe, werde er zumeist nicht als politisches Problem betrachtet.

Brasiliens seit Jänner 2003 regierenden Präsident Lula da Silva machte den Kampf gegen den Hunger in seinem Land, wo 50 Millionen der 180 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze leben, dagegen zur höchsten Priorität seiner Regierungspolitik. Und Frei Betto, der weltweit bekannte Befreiungstheologe, ist sein Sonderberater für das Programm "Fome Zero" (Null Hunger), durch das bis Ende 2006 alle Armen drei Mahlzeiten täglich erhalten sollen.

Unterstützung bei Verpflichtung zum Schulbesuch

"22,5 Millionen Brasilianer sind bereits vom Programm erfasst", sagte Frei Betto im Gespräch mit dem STANDARD, "bis Jahresende werden es 30 Millionen sein." Frauen armer Familien erhalten monatlich 22 Euro ausgezahlt (in größeren Familien mehr), mit denen sie Lebensmittel einkaufen können, wovon es im Land an sich mehr als genug gibt.

Im Gegenzug verpflichten sich die Familien, ihre Kinder in die Schule und zu vorgeschriebenen Impfungen zu schicken. Der Erfolg lasse sich bereits messen: "In Guaribas, einer extrem armen Gemeinde in der Region Piaui, starben von 1000 lebend geborenen Kindern 51 vor dem ersten Geburtstag. Jetzt, sechs Monate nach Beginn des Programms, sind es null."

Kein karitatives Hilfsprogramm

"Fome Zero", so betont Betto, sei aber kein karitatives Hilfsprogramm. Es gehe um viel mehr: um die Verbesserung der Infrastruktur (etwa der Bau von einer Million Regenwasserzisternen in Trockengebieten), die Förderung von Kleinunternehmen am Land und damit um den Stopp der Zuwanderung in Großstadtslums. In Bettos Worten geht es "um die Integration der Ausgeschlossenen in die Gesellschaft".

Ein Kernprojekt kommt nur schleppend voran: die erste wirkliche Landreform Brasiliens, im Zuge derer 400.000 landlose Familien angesiedelt werden sollen. 2003 wurde dies nur für 30.000 geschafft. Für diese Verzögerung macht Betto neben Geldmangel auch den Widerstand des Kongresses verantwortlich, "wo die Grundbesitzer sehr stark sind". Insgesamt hält sich die reiche Elite Brasiliens derzeit aber zurück. Angesichts eines Wirtschaftswachstums von 5,7 Prozent im zweiten Quartal 2004 schreiben Finanzkommentatoren von "Champagnerlaune" an Börse, die Weltbank lobt Lulas Regierung, die pünktlich Rückzahlungen für die 300 Milliarden Dollar hohen Staatsschulden leistet.

Angst vor Lula gesunken

"Die Unternehmer sind jetzt glücklich, weil sie ursprünglich so viel Angst vor Lula hatten", meint Betto. "Einige sind aber doch beunruhigt, weil sie wissen, dass ihnen die Reformen des politischen Systems und der Steuern noch Macht kosten werden." Einwände linker Kritiker, die eine Konfrontation mit dem Finanzkapitalismus erwartet hätten, weist Betto zurück: "Lula hat eine Wahl gewonnen, nicht eine Revolution. Und die konservativen Kräfte sind in Brasilien gut organisiert." Im Gegensatz zu Venezuelas umstrittenen Präsidenten Hugo Chávez komme Lula aus einer traditionsreichen sozialen Bewegung. Chávez sei aber demokratisch "ultra-legitimiert" und habe Lulas volle Unterstützung.

"Wir müssen uns im Rahmen der Demokratie bewegen, nicht aus Schwäche sondern aus Überzeugung", sagt der einst revolutionäre Befreiungstheologe Betto, der unter Brasiliens Militärdiktatur von 1969 bis 1973 im Gefängnis saß. Eine Revolution müsse man machen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, sagt der nun im dunklen Anzug eines Geschäftsmannes auftretende Priester. "Heute haben wir den demokratischen Weg." (DER STANDARD, Printausgabe, 13.10.2004)