Umberto Eco
Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
€26,70/480 Seiten.
Hanser Verlag,
München 2004.

Umberto Eco (Hg.),
Die Geschichte der Schönheit
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Martin Pfeiffer.
€ 41,10/438 Seiten.
Hanser Verlag,
München 2004.

Grafik: Hanser

Müsste man für kommende Generationen umreißen, was das Phänomen Umberto Eco ausmacht, so könnte man als vergleichbare Größe vergangener Tage den französischen Bestsellerautor Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) herbeizitieren.

Streift man nämlich durch dessen einstiges Wohnhaus an der Pariser Place des Vosges, dann manifestiert sich dort eine ähnliche Mischung aus statuarischer bürgerlicher Repräsentation, einem immer wieder formulierten Zweifel an den Insignien dieses Status und einem Hang zu (oft extrem verdüsterten) Fantasieszenarios wie in Ecos Privatatelier in Mailand - das man von heute auf morgen in ein (vermutlich sehr gut besuchtes) Dichtermuseum umfunktionieren könnte. Romane (Emilio Salgaris Räuberpistole Sandokan zum Beispiel!), Lehr-und Bilderbücher aus den Jugendtagen in Glasvitrinen; allerorten wertvolle Folianten und Handschriften; eine durchaus aufwändige Behaglichkeit, in der alles danach ausgerichtet scheint, Konzentration (nicht zuletzt auf sich selbst) zu gewährleisten.

Ähnlich wie einst Hugo hat sich heute Eco eine Art von Hochplateau erobert, auf das er sich einerseits für private Studien zurückziehen und von dem aus er gleichzeitig durchaus professoral dozieren kann: über Semiotik ebenso wie über Populärkultur, zur tagespolitischen Lage Italiens gleichermaßen wie über historische Kategorien von Schönheit - kürzlich erschien dazu ein opulenter Bildband. Manchmal beginnt Eco dann, auf eine eigentümlich kühl abgezirkelte Weise fast systematisch zu spinnen und zu träumen - und daraus entstehen dann Bestseller, von denen niemand genauer zu wissen scheint, wie man sie konstruieren muss, als der Autor selbst. Scheinbar verstrickt er sich dabei in Spezialgebieten und trifft doch den Leser oft bei den nahe liegenden Bedürfnissen.

Mit Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana legt Umberto Eco nun seinen "irrsten", "persönlichsten" und zugleich "kältesten" Roman vor. Der Titel, aufgrund dessen man etwa eine spektakuläre historische Romanze im Gefolge von Alexandre Dumas erwarten könnte, führt auf den ersten Blick völlig ins Leere: Es geht um einen Büchersammler und Antiquar, der, aus dem Koma erwacht, lediglich Buchzitate im Kopf hat und kein autobiografisches Detail. Aber andererseits - und da wären wir durchaus wieder bei einem obsessiven, melodramatischen Umgang mit historischen Stoffen, Gerüchen, Gefühlen (wie in Angstfantasien und Novellen des 19. Jahrhunderts) -, wie orientiert man sich in einer Vergangenheit, die einem zum erst mühsam wie hinter Nebelschwaden freigelegten Niemandsland geworden ist? Nicht umsonst lässt Eco seinen Protagonisten unter anderem Poe (Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym) und Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) zitieren.

Klar: Es geht einmal mehr um die Konstruktion von Geschichte(n) in Ecos Roman. Es geht um Verdrängungen, die möglicherweise essenziell Bedeutsames aussparen, und um gefährliche Assoziationen, in denen "Randerscheinungen" plötzlich zu Hauptmotiven werden. Nur durch einen "Zufall" wird offenbar, dass sich der Titel des Buches auf ein an und für sich eher vernachlässigbares Abenteuer-Comic bezieht. Andererseits: Was heißt vernachlässigbar, wenn man zum Beispiel einem Ohrwurm nachsinnt? Nicht auszudenken, wenn es mehr europäische Intellektuelle Eco gleichtäten und abseits geläufiger Bildungs-Autobiografien ihr Leben auf jene kleinen Erschütterungen befragten, die doch recht eigentlich Kindheit, Jugend und Alltag bestimmt haben.

Dies ist nämlich die vielleicht komplexeste Finte in Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana: Zwar "erfindet" Eco eine Figur, die im Übrigen permanent von ihren eigenen Assoziationen in Lebensgefahr zu geraten droht, andererseits "liest" er durch diese Figur, die auch als skurriles Fallbeispiel für den Neurologen Oliver Sacks (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte) herhalten könnte, seine eigenen Lebensarchive neu - er betritt quasi das Privatmuseum, das sein Domizil einmal werden könnte, mit den Augen eines Fremden, und studiert: Erst langsam, vor allem als sich der Icherzähler in einem Archiv von Jugend- und Familienerinnerungen zu orientieren beginnt, entsteht daraus so etwas wie ein Lebensbericht, die "Autobiografie einer Generation" (Eco), beziehungsweise: ein "illustrierter Roman" wie ein Kurzwellensender, in dem man zwischen unzähligen Details (und Störgeräuschen) erst eine Melodie erkennen lernen muss.

Eine böse Pointe von Ecos Buch: Der Protagonist - er hat übrigens den Familiennamen des großen Typografen Bodoni - schreibt/erzählt am klarsten, wenn er nicht ganz bei sich ist. Irgendwann kulminiert eine sehr spezifische italienische Geschichte privater und öffentlicher Räume in einem gewaltigen Trip, einem jener "letzten Lebensfilme", von denen es ja auch immer heißt, sie würden Details versammeln, die auf den ersten Blick nicht unbedingt die wichtigsten zu sein scheinen. Aber vielleicht liest man ein Leben lang sein Leben falsch. Oder man ist als Erzähler längst tot wie Bruce Willis in M. Night Shyamalans The Sixth Sense.

Umberto Eco ist zumindest seiner Außenwirkung nach jemand, der nicht unbedingt gerne angreifbar wirkt. Insofern ist Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana sein bislang mutigstes Buch, auch weil es in einer gewissen Hast am wenigsten Souveränität behauptet. Ganz eindeutig liegen die Stärken des Dichters mehr in einer virtuosen Konstruktion von Zusammenhängen als in einer Sprache, die mit herbeizitierten literarischen Vorgängern wie Proust oder Pavese ernsthaft konkurrieren könnte.

Aber ähnlich wie bei Victor Hugo, den man zu seiner Zeit weniger wegen seines Stils als wegen der von ihm couragiert vertretenen Positionen schätzte, ist auch Eco eine verlässliche Größe mit Hang zu unerwarteten Ausritten. "Es ist verwirrend, eine Welt wiederzubesichtigen, in die man zum ersten Mal kommt", schreibt er einmal: "Wie wenn man sich im Haus anderer Leute als Heimkehrer fühlt." Als nicht italienischer Leser, für den viele der von Eco zitierten Lieder, Bilder, Klänge unbekannt sind, stellt sich dieses Gefühl auf wortwörtlich traumhafte Weise ein. Und vor diesem Hintergrund schließt Eco auf exzentrische Weise auch an Sci-Fi-Romane eines Philip K. Dick oder Stanislaw Lem an.

Die "fremden Erinnerungen im eigenen Kopf" könnten ja, wenn man einmal einen ähnlichen Gedächtnisverlust wie Ecos Held erleidet, die einzigen Partikel sein, an denen man sich dann noch festhalten könnte. An diesem Punkt könnte jeder für sich diesen Roman weiterschreiben, die eigenen Obsessionen, Helden, Irrtümer, "Königinnen" auf diversen Dachböden wieder hervorkramen und sichten.

Eine faszinierende Option. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9./10.10.2004)