Gore Vidal: Lügen sollten als Kapitalverbrechen betrachtet werden

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Wien – Poet und Polyhistor, Schauspieler, Drehbuch- und Romanautor, Essayist, Kulturkritiker, weitläufig entfernter Cousin von Exvizepräsident Al Gore: Der 79-jährige Gore Vidal ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten, die das amerikanische politische und Kulturleben je hervorbrachte.

Und offenbar hat Vidal auch in Wien eine ansehnliche Schar von Fans: Der Saal im Palais Ferstel, wo Vidal am Dienstag in Rahmen eines vom Renner-Institut veranstalteten Zwiegesprächs mit SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer über die US-Politik im Allgemeinen und die Bush-Regierung im Besonderen ablästerte, war voll besetzt – und Vidal, ganz unbeugsamer Republikaner und schwieriger Patriot, blieb dem Publikum nichts an exponierten Meinungen schuldig.

Was Vidal besonders aufregt, ist dass die US-Regierung von einem "Haufen ungebildeter Gas- und Ölhändler" gekapert wurde, für die er offenkundig nur äußerste Verachtung aufbringt. Das Einzige, was Vizepräsident Dick Cheney ("ein Mann, der genauso viele Schwierigkeiten mit der englischen Sprache hat wie sein Chef") zu Beginn seiner Amtszeit verstanden habe, sei, dass sich die natürlichen Reserven der Erde ihrem Ende näherten. Das sieht Vidal auch als den Grund dafür, dass die USA den Irakkrieg vom Zaun gebrochen haben. "Jetzt regieren Generäle, die in Wahrheit einem Postamt vorstehen sollten, ein altes Land wie den Irak." Anders als Gusenbauer, der den Verbleib des Militärs im Irak als moralische Verpflichtung sieht, ist Vidal dafür, alle US-Truppen samt und sonders aus dem Nahen und Mittleren Osten abzuziehen. "Es gibt keine guten Ratschläge, die wir anderen Leuten zu erteilen hätten."

Als ein politisches Kernübel sieht Vidal den losen Umgang der Regierung mit der Wahrheit, und er zitiert Montaigne: Lügen sollten als Kapitalverbrechen betrachtet werden. Gusenbauers Hoffnung, dass der Demokrat John Kerry ein für die USA ein besserer Präsident wäre, kann Vidal nur bedingt teilen. In einem politischen System, in dem das Volk nichts zu sagen habe und ausschließlich zwei Parteien, die "das Eigentum repräsentieren", die Macht ausübten, da spielten Persönlichkeiten keine große Rolle.

Die Personalisierung der Politik sei eine Medienunsitte, mit der Leute wie Rupert Murdoch, jener "große Amerikaner oder jener große Australier", die Öffentlichkeit systematisch infantilisierten: "Nur ein Prozent der Leute liest noch Bücher." Dass überhaupt noch öffentlich gegen Ungeheuerlichkeiten wie den "Patriot Act" oder die Doktrin vom vorbeugenden Krieg aufbegehrt werde, sei Leuten wie Michael Moore zu verdanken: "Den sollte man selig sprechen." Nichts Gutes erwartet Vidal von den Novemer-Wahlen: Die elektronischen Wahlmaschinen erlaubten alle Arten von Manipulationen, sodass eine Wiederholung des Szenarios von 2000 durchaus denkbar sei: "Kerry gewinnt wie Gore, und dann wird ihm der Sieg wieder aberkannt."

Hundert Meilen

Beim Abendessen spricht Vidal viel über das US-Kino (besonders Robert Altman) und die amerikanischen Verfassungsväter, über die er erst im vergangenen Jahr einen Bestseller ("Inventing a Nation") geschrieben hat. "Ich kann Ihnen versichern, dass die Bushs kein Wort von dem verstehen würden, worüber wir hier reden", sagt er dem Standard. Hat er eigentlich je einen aus dem Bush-Clan getroffen? – "Ich würde hundert Meilen laufen, um eine solche Begegnung zu vermeiden." (DER STANDARD, Printausgabe, 7.10.2004)