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Rascher als erhofft, schreitet Andreas Unterbergers Nachfolger in der "Presse" an die Verwirklichung seiner an sich ungefährlichen Drohung, das Blatt in ein Erklärungsmedium umfunktionieren zu wollen. Am Wochenende verpasste Michael Fleischhacker seiner Leserschaft gleich eine doppelte Lektion zum Thema Vom richtigen Gebrauch der Geschichte, einmal im Leitartikel unter diesem Titel und eigenem Namen, ein zweites Mal mit einem Gastkommentar von Rudolf Burger zur Wiederkehr der Klage über die Verdrängung im Feuilleton.

Mit dem historischen Deutungsmonopol, das nun einmal zum Ornat eines "Presse"-Chefredakteurs gehört, besteht Fleischhacker darauf, dass die hinter der Varizen-indizierten Seligsprechung vom Wochenende stehende Frage nach dem rechten "Gebrauch der Geschichte" durchaus ernsthafte Behandlung verdient. Leider kommt seine ernsthafte Behandlung über die rasend originelle Erkenntnis nicht hinaus, dass man beim "Gebrauch der Geschichte" nie bis zum letzten genau weiß, wie es wirklich war.

Von dieser Binsenweisheit bis zur Entrückung der Geschichtswissenschaft in metaphysische Sphären ist es dann nur noch ein Schritt: Am Ende kommen wir - ganz wie die zuständige Kommission im Seligsprechungsverfahren - nicht darum herum, uns im Falle widersprüchlicher Zeugnisse für die eine oder andere Lesart der Geschichte zu entscheiden. Schluss mit dem Bemühen um Irdisches "sine ira et studio" - "sursum corda" sei das Motto der Historiker: Im Falle widersprüchlicher Zeugnisse ist Geschichtsschreibung als Seligsprechungsverfahren mit Sicherheit amüsanter als öde Arbeit an den Quellen.

Fleischhackers Hauptsorge bezieht sich aber auf die Zukunft. Die Auseinandersetzung verspricht im Jubiläumsjahr 2005 besonders intensiv zu werden: Etliche professionelle Teilnehmer - Historiker, Schriftsteller, Intellektuelle - aus der 68-Generation werden ihn als letzte Möglichkeit sehen, ihr Deutungsmonopol der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts aufrecht zu erhalten.

Nicht nur, dass uns Fleischhacker ein Jahr im Voraus ein Deutungsmonopol enthüllt, auf dessen Deutung er das Monopol hat. Er erklärt auch, worauf es angeblich beruht: Es beruht darauf, dass sie erfolgreich den Eindruck erweckten, sie könnten sagen, "wie es wirklich war." Was hat er dagegen - wo er den 68ern doch nichts anderes vorwirft als das, wofür er die zuständige Kommission im Seligsprechungsverfahren preist?

Im Vorgefühl von 2005 scheint auch Rudolf Burger zu leiden, und das schwer. Das Gedenken nimmt kein Ende, jammerte er prophylaktisch im Feuilleton, und schiebt das Denken vor sich hin. Aber seine diesbezügliche Leidensfähigkeit ist erprobt, extrapoliert er sein verständliches Grauen vor dem nächsten Jahr doch aus "Reden über Österreich", die vor nicht weniger als sechzehn beziehungsweise neun Jahren im Residenzverlag erschienen sind. Nicht mit der Wiederkehr des Verdrängten haben wir es hier zu tun, sondern mit der Wiederkehr der Klage über die Verdrängung, und kein Licht am Ende des finsteren Tunnels österreichischer Verdrängungsklagen: Nächstes Jahr, zu den Gedenkveranstaltungen 2005, werden wir sie wieder hören, dessen können Sie sicher sein.

Hoffentlich tut ihm wer den Gefallen. Gebiert sein Unmut über den austromanischen Rosenkranz doch Sätze, die einen zwar nicht eben stolz auf Österreich im Sinne der "Kronen Zeitung", aber doch heiter stimmen. Zum Beispiel der: Denn die lange Zeit staatstragende Ideologie von der Neugeburt Österreichs aus dem Geiste des Opfers, die Viktimisierungsthese, wonach das kleine, schwache Land zu seiner wahren Identität erst gefunden habe im Akt einer Vergewaltigung durch das starke Deutschland, schuf - abgesehen von ihren staatspolitischen Meriten - jene wenig erfreulichen, neurotisch-effeminierten Züge des konzeptuellen Nationalcharakters, die für die ästhetische und moralische Selbstdarstellung der Zweiten Republik so charakteristisch wurden und jeden ausländischen Betrachter peinlich berührten.

Ein wahrhaft austromanischer Rosenkranz! Doch nicht genug der effeminierten Züge. "Das kleine neutrale Land", das war keine trockene Information über einen geografischen Sachverhalt, sondern eine Selbsteffeminierungs- und Selbstinfantilisierungsformel, eine Formel der Exkulpation, und all diese rückwärts gewandte Erkenntnis mag etwas für sich haben, nur nebenbei: Jene, die über Verdrängung klagten, sind an der Viktimisierungsthese und an den neurotisch-effeminierten Zügen des konzeptuellen Nationalcharakters am wenigsten schuld.

Da eher schon jene, die der kirchlichen Seligsprechung Kaiser Karls zumindest eine weltliche des Engelbert Dollfuß folgen lassen und dabei am liebsten ganz wie die zuständige Kommission im Seligsprechungsverfahren vorgehen wollen. Aber wir werden nicht auch noch ins Jahr 2005 vorgreifen. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.10.2004)