Istanbul - Knapp drei Wochen vor dem entscheidenden EU-Bericht über den Stand der Reformen in der Türkei hat die Regierung in Ankara am Donnerstag eine der wichtigsten Reformwerke der letzten Jahre selbst auf Eis gelegt. Kurz vor Ende der Parlamentsberatung über ein neues Strafgesetzbuch, das die Türkei näher an Europa heranbringen sollte, stoppte die Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Abend die Debatte in der Volksvertretung. Vorangegangen war ein heftiger Streit innerhalb der AKP um die geplante Bestrafung von Ehebrechern. Das vorläufige Scheitern der Strafrechts-Reform ist ein schwerer Rückschlag für die türkische EU-Bewerbung.

"Taktisches Manöver" der AKP

Die fast 350 Artikel umfassende Reform sollte den Türken unter anderem mehr Meinungsfreiheit bringen. Zudem sollten unter anderem durch die Anerkennung der Vergewaltigung in der Ehe als Straftat die Rechte der Frauen gestärkt werden. Auch die Strafen für Folterer sollten erhöht werden. Das Parlament hatte in einer Sondersitzung seit Dienstag diese Reformen bereits beschlossen. In Kraft treten können die Reformen nun aber vorerst nicht: Mit ihrer Parlamentsmehrheit verwies die AKP zwei Paragraphen, bei denen es um Ausführungsbestimmungen ging, zur erneuten Beratung zurück an den Rechtsausschuss. Türkische Kommentatoren werteten dies als taktisches Manöver der AKP, die Zeit gewinnen wolle, um ihren parteiinternen Streit beizulegen.

Erneut Forderung nach Ehebruch-Gesetz

Anlass für die AKP-Führung, im Parlament die Notbremse zu ziehen, war die am Donnerstag erneut aufgekommene Forderung einiger ihrer Abgeordneten, den Ehebruch zur Straftat zu erklären. Die AKP hatte diesen Plan erst vor zwei Tagen unter dem Druck der EU fallen gelassen. In Ankara hieß es, bei dem erneuten Vorstoß handele es sich um eine Protestaktion frustrierter AKP-Hinterbänkler gegen die eigene Regierung.

Unklarer Ausgang

Am Abend blieb unklar, wann sich das Parlament erneut mit der Strafrechtsreform befassen wird. Die EU-Kommission will in ihrem Anfang Oktober erwarteten Fortschrittsbericht zur Türkei eine Empfehlung darüber abgeben, ob Beitrittsverhandlungen mit Ankara aufgenommen werden sollen oder nicht. Der Streit um den Ehebruch und das vorläufige Scheitern der Strafrechtsreform könnte das Urteil der Kommission über die Türkei negativ beeinflussen. (APA)