Die wöchentliche Kolumne von Thomas Rottenberg. Jede Woche auf derStandard.at/
Panorama

Jetzt auch als Buch: Die besten Stadtgeschichten der vergangenen drei Jahre - zum Wiederlesen & Weiterschenken.

"Wiener Stadtgeschichten" mit Illustrationen von Andrea Satrapa-Binder, Echomedia Verlag Ges.m.b.H., ISBN 3-901761-29-2, 14,90 Euro.

Echo-Verlag

Neulich habe ich das Christkind gesehen. Es war wunderschön. Zierlich und hold und liebreizend lächelnd. Es sah genau so aus, wie es auszusehen hat. Zumindest dann, wenn das Christkind kein Säugling in der Krippe oder kein weißbärtiger Opa im Kamin, sondern ein blondgelocktes Mädchen in wallend weiß-goldenem Kleid sein soll. Zugegeben: Die Szenerie war kitschig. Aber irgendwie auch schön. Weihnachtlich eben.

Es war am Rathausplatz. Das Christkind stand zwischen einer handvoll frisch aufgestellter Christbäume – dicht an dicht – und spielte mit den verschneiten Ästen der sattgrünen Tannen. Das Christkind lächelte und strahlte – und tat so, als höre es die zotigen Rufe und Witze der Bau- und Bühnenarbeiter nicht, die ein paar Meter links und rechts von ihm werkten. Es war Dienstagvormittag. Anfang September. Die Sonne strahlte späthochsommerlich vom Himmel.

Schweiß und Schnee

Die Touristen waren begeistert. Sie rannten aufgeregt herum, legten sich sogar auf den Boden und schossen ihre Speicherkarten voll. Sie trugen kurze Hosen und T-Shirts – und die Arbeiter, die gerade die Hütten des Rathausplatzsommerfilm- und – fressfestivals zerlegten, arbeiteten oben ohne. Ihre Schultern und Rücken glänzten vor Schweiß. Das Christkind drehte und wendete sich in dem kleinen, winterlichen Waldstück, das da vor einer hochnoblen Ritter- und Edelleutestatue am Platz aufgebaut war, lächelte hold und war liebreizend.

Alle paar Minuten kam eine Frau mit einer Spraydose zum Christkind. Sie erneuerte den dichten, flockigen Schnee, der auf den Ästen – und ein bisserl auch am Christkind – lag. Vor dem Christkind stand einer mit einer Kamera, neben ihm einer mit einem Lichtreflektor. Ein paar Schweinwerfer, ein paar hektisch wuselnde Leute – und ein paar wichtig am Rande stehende Figuren. Das übliche. Auf einem Lieferwagen mit oberösterreichischen Kennzeichen entdeckte R. dann eine Aufschrift: Da stand etwas von Christbaumzucht und Oberösterreich. Wir mussten weiter.

Weihnachtsflüche

Wir waren am Weg zu einer Pressekonferenz. Weihnachten, sagte R. – und hängte einen sympathisch-gotteslästerlichen Fluch an – Weihnachten. Schon wieder. Ist es schon so weit? Dann seufzte er und gab sich selbst die Antwort: Ja, meinte R., es wird schon wieder Zeit, mit dem Listenmachen, dem Absprechen, dem Ideenhamstern und Dingeheimschleppen zu beginnen. Weil die Zeit nicht rennt, sondern fliegt: Gut, öffnete R. seinen Shoppingeventkalender, bis zum Christkindlmarkt sind es vielleicht noch ein paar Monate. Aber wenn die Sommerbalz am Rathausplatz vorbei ist, habe man doch ohnehin nur ein oder zwei Wochen Zeit, bis in Supermärkten der Halloweenunfug ausbricht. Und der Übergang von Halloween zu Nikolo ist – schoko- und ausstattungstechnisch – ja schon in den letzten Jahren fließend gewesen.

Sobald der Nikolo im Regal steht – eigentlich ja meistens schon Wochen vorher-, referierte R. weiter, hängt schon die Weihnachtsdeko in den Einkaufsstraßen. Und wo Weihnachtsbeleuchtung, da „Stille Nacht“-Beschallung. Im Vorjahr, seufzte R. während wir uns dem Rathaustor näherten, habe er den ersten akkustischen Klingeling-Anschlag Anfang oder Mitte Oktober über sich ergehen lassen müssen. Es sei, R. sagte, er erinnere sich noch genau, in einem Supermarkt am Stadtrand gewesen. Er habe gerade einen Klobesen aus dem Regal genommen. Wie passend, sagte er, habe er sich da gedacht. Aber dann sei ihm das Lachen rasch vergangen.

Das Früher-Besser-Lied

Eigentlich, sagte R., möge er Weihnachten ja. Oder besser: Habe er Weihnachten früher immer gemocht. Nicht nur als Kind, sondern auch später. Aber irgendwie, und er sei sich nicht sicher, ob das an seiner Wahrnehmung oder doch am Tempo der Zeit läge, sei das heute halt nicht mehr so. Und, sagte R., er hasse es doch eigentlich auch, wenn Leute schon in unserem Alter so klängen wie seine eigene Großmutter nie lamentiert habe: Das Früher-Besser-Lied sei schlicht unerträglich. R. sah mich an und schluckte. Dann entschuldigte er sich und wurde still.

Die nächste Stunde – also vor, während und nach der alldienstäglichen Bürgermeisterselbstbeweihräucherung – war er erstaunlich ruhig: kein blödes Grinsen, kein süffisanter Kommentar und nicht einmal ein ironisches Nicken entkam ihm, während die Stadtobersten am Podium uns wie jede Woche erklärten, wie großartig sich das Licht ihres epochalen Wirkens auf unser aller kleine Leben auswirkt.

Sternenstaub

Auch danach, am Weg zurück über den Platz, war R. geknickt. Das Christkind stand mittlerweile auf einem der Lieferwägen, hatte das Rathaus als Kulisse und fuchtelte - immer noch hold, liebreizend und lächelnd - mit den Armen während der Wagen von zwei Helfern langsam hin und her geschoben wurde. Ich glaube, es streute Sternenglitter in die Landschaft – aber so sicher war sich da auch R. nachher nicht mehr: Die grelle Sonne blendete. Auch die Filmhelfer hatten ihre T-Shirts bereits abgelegt.

Später am Tag schickte R. mir dann ein Mail. Es gehe ihm wieder halbwegs. Aber er müsse sich jetzt wirklich einiges überlegen. Zum einen, wie er es in Zukunft schaffen solle, nicht schon ab Ende August an seiner Weihnachtsaggression, seiner Klingeling-Allergie und seiner Stille-Nacht-Depression zu laborieren. Vier Monate X-Mas-Terror, schrieb R., seien einfach zu viel. Und er bat um zwei Antworten. Seine zweite Bitte konnte ich leicht erfüllen: R. wollte wissen, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Seinen eigenen Wunschzettel hatte er auch mitgeschickt.