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Auf das gigantische Fragezeichen des 11. 9. 2001 hat Amerika drei Jahre danach immer noch keine Antwort gefunden. Oder besser gesagt: Es hat viele Antworten gefunden, aber diese Antworten widersprechen einander so sehr, dass sie Konfusion verbreiten, nicht Klarheit. Je nachdem, ob die Antworten aus Retroamerika oder aus Metroamerika stammen - dieses neue sprachliche Gegensatzpaar bezeichnet eine altbekannte ideologische Polarität, die das Land durchzieht - sind sie doch so verschieden wie Tag und Nacht.

Retroamerika ist das Amerika der Südstaaten und des Mittleren Westen, das Land der Religiosität, eines einfachen Patriotismus, schlichter moralischer Werte. Metroamerika sind die liberal gesinnten Küstengebiete.

Retroamerika ist republikanisch, Metroamerika gehört den Demokraten: Diese Beschreibung ist zwar vereinfachend, und es gibt auch Retros, die in Metroland leben (und umgekehrt). Als Aufnahme zweier idealtypischer Tendenzen trifft sie aber zu.

Die Retros tendieren dazu, den Terror als einen Kampf zwischen Gut und Böse zu sehen, bei dem Amerika gut ist und die anderen böse. Die Metros denken nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Grautönen, verstehen den Terror als komplexes Phänomen mit vielen ideologischen und sozialen Facetten, die verstanden werden müssen, um ihn richtig zu bekämpfen.

Die Retros sehen den Terror als ein Problem, das ein für alle Mal gelöst werden kann, wenn man die nötigen militärischen Mittel entwickelt und hart genug hinhaut. Die Metros haben keinen prinzipiellen Einwand gegen mehr Sicherheit. Sie wissen aber, dass die totale Sicherheit, wie sie den Retros vorschwebt, eine Illusion ist.

Die Retros setzen auf eine Philosophie des "Go it alone", die Metros votieren für internationale Allianzen. Die Retros setzen auf immer neuere, immer bessere Waffen, auf Präventivkriege, mit denen das Böse am anderen Ende der Welt in Grund und Boden gebombt werden soll, ehe es in Amerika Schaden anrichten kann. Die Metros finden es skandalös, dass die Regierung 400 Milliarden Dollar in ihr Militärbudget buttert, während 45 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung haben. Die Tragik der 3000 Toten von 9/11 schmerzt auch sie. Aber sie betonen, dass es noch andere Probleme auf der Welt gibt als den Terror.

Soziale Probleme zum Beispiel, oder das Problem, dass Regierungen Angst für ihre eigenen Zwecke ausnützen. Eine besondere Pointe der ganzen Konstellation ist die, dass gerade viele Einwohner von New York, also jene Metroamerikaner, die am meisten unter dem Terror gelitten haben und nach wie vor seine bevorzugte Zielscheibe sind, sich am explizitesten gegen die Aushöhlung von Bürgerrechten zur Wehr setzen.

Es ist klar, wer zwei Monate vor der nächsten Präsidentenwahl, bei der das Thema Terror ganz oben steht, in den USA das Heft in der Hand hat. Angst ist eine ungeheure politische Produktivkraft, und sie spielt in diesem Wahljahr einer Regierung in die Hände, die ihre Bürger mit einem undurchschaubaren Farben-Jo-Jo auf der Terrorskala in Atem hält und einen Krieg vom Zaun gebrochen hat, von dem immer noch schleierhaft ist, was er zur Sicherheit der USA beigetragen haben sollte.

Aber als oberster Terrorbekämpfer der Nation hat George W. Bush einen hervorragenden Stand. Viele Amerikaner kaufen ihm die Botschaft, dass er sie gegen den Terror schützen wird, ab. Sie kaufen sie, weil sie Angst haben und diese Botschaft brauchen. Der Demokrat John Kerry hat dem nichts entgegenzusetzen.

Selbst wenn sie die Wahl verlieren, werden die Metros Recht behalten. Auf lange Sicht müssen sich die Amerikaner mit der schmerzlichen Einsicht abfinden, dass es den absoluten Schutz gegen Terror nicht gibt und dass jeder Versuch, einen absoluten Schutz herzustellen, eine tödliche Gefahr für die Grundlagen einer freien Gesellschaft ist. Es wird ein sehr langer Prozess sein, bis sich diese Einsicht durchsetzen und politisch Früchte tragen wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2004)