Ludwig Wittgenstein

derStandard.at
Wien - Unter dem Titel "Licht und Schatten" sind zwei bisher unveröffentlichte Fragmente des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein erschienen, die sich mit Religion und der Kultur des Menschen auseinandersetzen. Auf einem Zettel mit Mathematikaufgaben für die folgende Schulwoche notierte Wittgenstein ein nächtliches Traum-Erlebnis vom 16. Jänner 1922, das ihm außer Reflektionen über sein Verhältnis zu Gott und die Einsicht über "meine völlige Nichtigkeit" auch einen wehen Ellbogen einbrachte.

Im Traum von seiner Schwester wegen seiner geistigen Größe gelobt, schämte sich der erwachte Philosoph wegen seiner Eitelkeit und fühlte plötzlich den "Befehl Gottes", aufzustehen und sich zu bekreuzigen. "Ich empfand auf einmal meine völlige Nichtigkeit und ich sah ein, dass Gott von mir verlangen konnte, was er wollte", schrieb Wittgenstein, der sich nach Minuten der Seelenqual wieder hinlegte, nur um beim Lampen-Ausschalten einen leichten elektrischen Schlag zu bekommen und sich vor Schreck den Ellbogen an der Bettkante zu stoßen. "Ich habe dabei immer an Kierkegaard gedacht und habe geglaubt, dass mein Zustand 'Furcht und Zittern' sei", so Wittgenstein in Anspielung auf ein Werk des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard.

Geistiges Ideal und schwummriges Licht

In einem Brief-Fragment ("Der Mensch in der roten Glasglocke") an seine Schwester aus dem Jahr 1925 vergleicht Wittgenstein die Kultur des Menschen mit dem Leben in eingefärbtem Licht, das der Einzelne wegen seiner Allgegenwart gar nicht wahrnimmt, bis er an die Grenzen der kulturellen Umgebung stößt. Das rein geistige Ideal wäre hingegen das Leben in ungefärbtem, weißem Licht. "Das Licht ist das Ideal und das getrübte Licht das Kulturideal", so Wittgenstein in dem Brief, in dem er auch sein baldige Ankunft in Wien ankündigt.

Beide Fragmente sind als Faksimile, als "diplomatische Fassung" und in einer normalisierten Fassung abgedruckt und mit einem Nachwort der Herausgeberin Ilse Somavilla versehen. (APA)