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Foto: REUTERS/Benedikt Loebell
Ein Einsamer kämpft in dieser ruhigen, konzentrierten Regiearbeit von Lukas Hemleb um ein Leben in Würde. Ein Triumph.


Wien – Wenn er sich unbeobachtet wähnt, streut der über jedes Maß wohlhabende Jerusalemer Jude Nathan (Klaus Maria Brandauer) Münzen aus: unter einem versetzten Spalier von Palmen, deren Stämme auf der Drehbühne des Wiener Burgtheaters glatt poliert sind wie Marmorsäulen, deren Fächer aber, unter dem gestirnten Himmel der Vernunft, aussehen wie verkochte Kohlblätter (Bühne: Jane Joyet).

Der geschäftigen Zudringlichkeit seiner Beschließerin Daja (Barbara Petritsch) begegnet Nathan, der nach Jerusalem, diesem konfessionellen Schmelztiegel, heimkehrende Kauffahrer, wie ein höflich abwehrender Block aus verfinsterter, unkenntlicher Materie.

Die in Freundlichkeit verpackten Angriffe einer auf Judenverachtung eingestimmten Umwelt wehrt er von sich höflich, aber bestimmt ab: Nathan ist der Harmonisierer einer zerfallenden Weltgesellschaft. Er hilft aus, aber er hilft aus Überdruss. Er kittet und klebt herum an den Sollbruchstellen des interkonfessionellen Zusammenlebens.

Nathan ist verbindlich – ohne sich das Wenige, das ihm andere zuwerfen wie schäbige Toleranzbrosamen, auch noch zu vergeben. Da vergräbt er lieber die Fäuste tief im Hosensack und denkt nach, als wüsste er nicht, in welchen Herzen der Antisemitismus schwärt und nistet.

Brandauer wird in solchen Augenblicken unübersehbar undurchdringlich: überlebensgroß, zugleich jedoch mäuschenklein. Als zöge er einen schimmernden Schutzvorhang vor seine imposant breite Gestalt. Er tätschelt seine Haushälterin, die ihn wohl liebt und insgeheim auf seinen Glauben ausspuckt, treulich ab wie einen alten, sabbernden Hofhund und wirft mit Weisheiten um sich wie ein Sozialpolitiker, der aus konkreter Sorge um Leib und Leben das "deficit spending" erfindet.

Kein lautes Wort

Brandauers aufregender Nathan ist der Schuldenmacher einer rettungslos zerfallenden, weil auf Offenbarungen gegründeten Weltgesellschaft. Im Burgtheater, wo während dreier Stunden kein lautes Wort fällt, kein Effekt die gutmenschlichen Augen blendet, kein Einfall die Gedankenmusik von Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise stört, sind es zerstörte Wesen ("Menschenkinder") unterschiedlicher Herkunft, die auf je verschiedene Weise durch die nämliche Gewalt Schaden genommen haben.

Und Lessing, dessen "dramatisches Gedicht" weniger versöhnt, als es Furchen des planvollen Missverstehens aufreißt, vergräbt das Trauma des Zerwürfnisses irgendwo tief im palästinensischen Sand. Die Burg-Schauspieler tänzeln, gleiten, schweben, singen darüber hinweg. Nur am Schluss, wenn die Geschwister zusammenfinden, stapft Nathan unverdrossen, aus der Tiefe lehmiger Gangfluchten, hinaus ins kalte Off.

Alles an Nathan ist in dieser denkwürdig stillen, konzent^rierten Inszenierung des in Frankreich berühmten Regisseurs Lukas Hemleb verbohrte, verbogene Abwehr: Die drollige Spitzfindigkeit eines plauderseligen Derwischs (Klaus Pohl) zählt ebenso zu den an Nathan gerichteten Zumutungen wie das empörende Ansinnen des nervlich zerrütteten Sultans Saladin (Wolfgang Michael), er, Nathan, möge sich als Jude seinen Platz in der Welt spitzfindig selber aussinnen.

Brandauer, der ja eigentlich Geld borgen soll, erfindet die "Ringparabel" sozusagen aus dem Stegreif – als simple Merkwortspende aus dem Artistenschutzärmel. Er bedenkt den seltsam von sich selbst angeekelten Tempelherren (Dietmar König), der ihm doch das Töchterchen gerettet hat und nun um die (verkannte) Schwester buhlt, mit Abschätzigkeit. Im Juden ist ein Raubtier begraben.

Immerzu glaubt man – jetzt fährt Nathan endlich heraus aus der geschundenen Haut. Macht Schluss mit einem faulen Frieden, der die einen – wie Saladin, der jammerläppisch seinem Bruder nachtrauert – mit Rührung verwöhnt, während ihm nichts bleibt als das Wachestehen auf seinem Wachsamkeitsposten.

Selten war Brandauer näher bei sich: in der Klarheit eines Spiels, das um keinen geringeren Einsatz als ein Leben in Würde geführt wird. Die Umarmung der allseits ausgesöhnten Religionsvertreter am Schluss entfällt. Dieser Nathan, der in einem Pogrom Frau und Kinder verlor und nun in unbefriedeter Anpassung an intolerable "Duldungsgründe" umgeht, ist eine verwirrende, nachhallende Figur. Sie hat sich die vereinzelten Buhrufe im Schlussapplaus nicht verdient gehabt. Sie war ein großes, unversöhnliches Rätsel. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.9.2004)