Martin Pollack
Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater
€ 20,50
256 Seiten
Zsolnay, Wien 2004.

Warum die deutschnationale Begeisterung so von den Menschen Besitz ergriffen hat, lange vor 1933 bzw. 1938 und nach 1945 immer noch: Das wurde im Großen analysiert, theoretisch hergeleitet, pathetisch verurteilt oder als gespenstisches Faszinosum aufgekocht bis hin zur x-ten Verfilmung von "Hitlers letzten Tagen". Doch es wird dadurch noch nicht - in seiner ganzen Komplexität aus den Lebensumständen der Handelnden und Behandelten - begriffen. Nur selten gibt es Fälle, in denen plötzlich Verstehen durchscheint, mehr noch: in denen, ganz unpathetisch, klar wird, warum die Dinge so gekommen und die Menschen so geworden sind.

Martin Pollacks neues Buch ist so ein Fall. Es hat die Qualität der allgemeinen, geschichtlich-politischen Einsicht in umso beeindruckenderem Ausmaß, als das gar nicht seine ursprüngliche Absicht war. Worum es zunächst geht, wird klar, bevor man das Buch überhaupt aufschlägt: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater, der Titel, ist die (auto)biografische Synopsis. Dass es sich dabei, wie auf dem Einband steht, um den 1947 am Brenner ermordeten SS-Sturmbannführer Dr. Gerhard Bast handelt, erhöht die Erwartung einer schmerzhaften und schwierigen Spurensuche.

Mit einer solchen, im wörtlichen Sinn, beginnt Pollack denn auch seinen Bericht. Vor knapp einem Jahr erst fuhr der damals 59-jährige ins Grenzgebiet, um jene Stelle zu finden, von der er nur vage wusste und auch das nur, seit er als Erwachsener begonnen hatte, den von den Verwandten sorgsam über das Leben seines Vaters gebreiteten Schleier zu lüften. So beginnen wir als Leser mit dem Endpunkt seiner Recherche und wissen nur eines nicht: wer Gerhard Bast umgebracht hat - denn ein Mord war es erwiesenermaßen.

Und nun begleiten wir Martin Pollack auf einer äußeren wie inneren Reise in die Vergangenheit seiner Vorfahren, die die Frage Whodunit? völlig in den Hintergrund drängt. Sie beginnt in Gottschee, slowenisch Kocevje, zum Zeitpunkt der Geburt des Vaters 1911 im Kronland Krain gelegen. Im Vergleich zur damaligen Landeshauptstadt Laibach ein Provinznest, aber immer noch weltläufiger als der Markt Tüffer in der Untersteiermark, aus dem der Großvater stammte. Der erzählte seinem Enkel viel vom Leben damals vor dem Ersten Weltkrieg, von der Jagd, von Bären und Wölfen - und nichts von den wachsenden Spannungen jener Zeit. Pollack ist heute in den Orten seiner Vorfahren, sieht, was nach Kriegen und Grenzverschiebungen aus dem deutsch-slowenischen Gebieten geworden ist. Zugleich berichtet er von dem, was er aus alten Fotos, aus Archiven und Berichten von Zeitzeugen über das vergangene Jahrhundert erfahren hat.

Immer deutlicher kreist seine Suche um die ideologischen Wurzeln seiner Vorfahren: die Marktflecken im Grenzland als idealer Nährboden deutschnationaler Ideologien; die Angst vor der Slawisierung, die Entfernung von Rom und Hinwendung zum Protestantismus, zu Bismarck; Genesen am deutschen Wesen im Turnverein, im Sängerbund. Mit Wirtshausraufereien und gegenseitigem Fenstereinschlagen begann es, und die Basts und ihre Verwandten waren mittendrin. Die nächste Generation, der Vater, trägt die Gesinnung bereits nach Graz, "die Stadt der Volkserhebung", an die Uni. Deutschnational war dort jeder, der etwas gelten wollte, Antisemitismus war ebenso selbstverständlich wie Verachtung für die Demokratie. Der fesche, sportliche Gerhard Bast machte Karriere, als Illegaler, in der SS, im Krieg in immer höheren Rängen, schließlich als Kommandant in "Sondereinheiten" im Osten.

Schmucklos, in präzisen Beobachtungen und darum umso packender lässt uns Pollack daran teilhaben, wie er in die Welt jener Zeiten eintritt - nicht "eintaucht": Er behält den Kopf über Wasser, reflektiert das Erfahrene, vergleicht es mit seinen spärlichen Erinnerungen. Denn gesprochen wurde nachher nicht darüber. "Bei uns hat man keine Fragen gestellt, das war das Problem." Darin spiegelt er die Situation von sprachlos gewordenen Generationen seiner, einer beispielhaften Familie. Sein Buch ist der großartig geglückte Auszug aus der Sprachlosigkeit. Die Geschichte der Basts im Grenzland, später der Basts und Pollacks in Linz und Amstetten, wird beredt.

Seine eigene Biografie enthält eine Wendung, die sich ihm im Verlauf der Suche und uns während der Lektüre erschließt. Da ist sein wachsendes Interesse am "Osten", das die Großmutter nie begreifen konnte, Reaktionsbildung und Protest zunächst, dann immer produktiver - der Autor und Slawist Pollack ist unter anderem ein gesuchter Übersetzer aus dem Polnischen geworden - und zum Schluss eine Fügung, die ein Romancier nicht besser hätte erdenken können: dass er in der Nähe von Warschau, wo er studiert hat, auf die Blutspur seines Vaters kommt und dass er in polnischen und slowakischen Archiven versiert nach den schrecklichsten Dokumenten über ihn sucht und fündig wird. Der SS-Mann hatte im Winter 1944/45 in den Karpaten Massenerschießungen befehligt, als die Sowjetarmee schon anrückte. Was davon blieb: Zeugnisse in verwaisten Museen; verwitterte Grabsteine, vor denen ihm durch den Kopf ging, "daß meine ganze Arbeit so aussah - ich versuchte etwas zu entziffern, was immer bruchstückhaft bleiben würde"; und die beschwörende Formel aller, die "den Gerhard" gekannt hatten: dass er immer "ehrenhaft und anständig" gewesen sei.

Pollack will nichts beweisen, er will einer Wahrheit näher kommen. Also registriert er auch mit Verwunderung Episoden menschfreundlichen Verhaltens mitten in dem mörderischen Wahnsinn. Zum Beispiel, dass sein Vater für einen "windischen" Gefangenen interveniert oder dass er im Frühjahr 1944(!) mit slowenischen Bekannten im jugoslawischen Partisanengebiet einen Ausflug gemacht hat. Es sind Episoden des nicht zu verniedlichenden, aber auch nicht zu vernachlässigenden "schlampigen Faschismus" österreichischer Machart, die Pollack helfen, seine Suche erträglich zu gestalten.

Sein letztes Buch, Anklage Vatermord, wirkt wie eine Vorausahnung, hatte es doch ebenfalls einen Tod in den Alpen zum Inhalt und ein in die Öffentlichkeit getragenes Vater-Sohn-Verhältnis. Doch die beklemmende biografische und biologische Nähe diesmal ist nicht zu vergleichen. Die Geschichte des leiblichen Vaters als die eines Nazi-Verbrechers zu rekonstruieren erfordert eine Sicherheit im Schreiben und zuvor noch im Denken, wie sie wohl nur wenige aufbringen. Der Autor sieht sich als sozusagen zufälliges Endprodukt und als Wendepunkt einer Tradition, er führt seinen eigenen Weg auf frühe Einflüsse eines liberalen Internats zurück und stellt sich die Frage, die er - was ich nicht ganz teile - als "die sinnloseste aller Fragen" bezeichnet: "Was wäre gewesen wenn?" Wenn zum Beispiel der Urgroßvater statt einer Deutschen eine Slowenin geheiratet hätte? Wären die Basts, vielleicht als Bastic, gute Slowenen geworden? Hätte Gerhard Bast dann nicht nach 1945 untertauchen und schließlich Unterschlupf als Knecht in Südtirol suchen müssen, bevor ihn ein Schlepper umbrachte? Berechtigte Fragen, aber, das stimmt, sicher nicht im Rahmen dieses Buches.

Es war, wie es war. Zum Schluss ist Martin Pollack wieder in Südtirol. Auch die Spur von Basts Mörder hat er gefunden. Allerdings ist Rudolf G., 1947 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, schon verstorben. Der Bruder lebt noch, ein Bergbauer zwischen Pontigl und Brennerbad, in einem spannungsreichen Grenzgebiet. Er sagt etwas über Rudolf, das Pollack gut kennt: "Mein Bruder ist immer brav und anständig gewesen."

Ehre und Verbundenheit mit der Scholle. Der Autor hat schmerzlich erfahren, was das im Extremfall hieß. Er selber hat sich ein anderes, unverkrampftes Gefühl für den Boden bewahrt, vom Stiefvater, nicht vom Vater beigebracht: "Ich wühle gerne in der Erde, pflanze Salat, setze Bäume." Was wäre gewesen, wenn es andere so gehalten hätten?