Wodurch immer die Erstürmung der Schule in Beslan ausgelöst wurde, ob sie spontan zustande kam oder doch einem ausgetüftelten Plan entsprang, der Opfer unter den Geiseln in Kauf nahm - eines steht außerhalb jeder Debatte: Wer in unfassbar zynischem Kalkül Kinder für seine politischen Zwecke einsetzt, hat auch den letzten Rest von Verständnis verwirkt. Kein noch so berechtigtes politisches Anliegen kann solche Mittel rechtfertigen.

Wenn die Terroristen von Beslan daher aus dem islamistischen Milieu kommen, mit entsprechenden Argumenten operieren und von auswärtigen muslimischen Extremistengruppen unterstützt werden - wofür einiges spricht -, dann sind zunächst einmal alle islamischen Autoritäten inner- und außerhalb Russlands gefordert, denen am Ansehen ihrer Religion etwas liegt: Es geht um eine absolut unmissverständliche Distanzierung von all jenen, die das vermeintliche Recht zu solchen Praktiken aus einem religiösen Auftrag ableiten - oder zumindest nach außen hin so argumentieren.

Das ist der sozusagen übergeordnete, der moralische Aspekt des russischen Kaukasuskonflikts, wie er sich mittlerweile darstellt. Insofern hat Russlands Präsident Wladimir Putin Recht, wenn er sein Land als Zielscheibe des internationalen Terrorismus darstellt - und dafür Verständnis nicht nur von George W. Bush, sondern merkwürdigerweise auch von den Irakkriegsgegnern Jacques Chirac und Gerhard Schröder erntet: Es gibt mehr als starke Hinweise dafür, dass Al-Kaida in den Separatisten- und Extremistengruppen der russischen Kaukasusregion Fuß gefasst hat.

Allerdings nicht als Ergebnis einer eigenen, weltumspannenden Offensivstrategie, sondern als Folge der Kaukasuspolitik Moskaus. Dass diese dramatisch gescheitert ist, zeigt das Geiseldrama von Beslan auf bisher erschütterndste Art. Putin selbst kann das natürlich nicht zugeben, ist er doch der Hauptverantwortliche für dieses Scheitern. Unter seiner Regie als damaliger Ministerpräsident begann Moskau im Herbst 1999 den zweiten Tschetschenienfeldzug, nach einer Bombenserie in Moskau und Wolgodonsk mit Hunderten Toten, deren Hintergründe bis heute im Dunkeln liegen.

Der Krieg gegen die bei vielen Russen verhassten Tschetschenen machte den Kriegsherrn populär und schuf die Voraussetzung für Putins triumphale Wahl zum Präsidenten. Die von Vorgänger Boris Jelzin mit dem damaligen tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow ausgehandelte politische Lösung, mit der Option einer späteren Unabhängigkeit Tschetscheniens, war kein Thema mehr. Putin setzte auf eine militärische "Lösung", einen Siegfrieden.

Dass dies ausgerechnet ein ehemaliger Geheimdienstchef tat, der bestens über die wahren Verhältnisse in der Region informiert sein musste, zählt zu den Rätseln, die Putin bis heute aufgibt. Tatsächlich aber dürfte der Kremlchef schon bald die Aussichtslosigkeit seiner ursprünglichen Strategie erkannt haben. Nach und nach versuchte er den Konflikt zu regionalisieren, indem er die Macht an Moskau-treue Statthalter übertrug. Die Ermordung des tschetschenischen Präsidenten Ahmed Kadyrow im Mai machte das Scheitern auch dieses Kurses klar.

Mit der Tragödie von Beslan steht Putin nun vor der größten politischen Herausforderung seit seinem Amtsantritt. Er hat es wohl selbst erkannt, als er am Tag vor der Erstürmung der Schule sagte, das zerbrechliche Gleichgewicht der nordkaukasischen Vielvölkerregion drohe zu kippen.

Auch wenn von einem "Gleichgewicht" mit Blick auf die Rolle Moskaus schwerlich die Rede sein kann: Als Ordnungsmacht bleibt Russland angesichts des drohenden, von den Extremisten gewünschten Chaos unentbehrlich. Aber diese Ordnungsmacht muss auf Überzeugung, Versöhnung, fairem Machtausgleich und gerechter Ressourcenverteilung statt auf Hegemonie beruhen, wenn der Ausbruch aus dem kaukasischen Teufelskreis irgendwann einmal gelingen soll. (DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.9.2004)