Vor diesem Moment hatten sich Frankreichs Lehrer seit Monaten gefürchtet: Wenn unter den zwölf Millionen Schülern eine Reihe junger Musliminnen zum ersten Unterricht nach den Ferien antreten würden, rechneten sie mit heftigen Konflikten. Denn mit Schulbeginn tritt in Frankreich ein neues Gesetz in Kraft, welches das Tragen "auffälliger" religiöser Abzeichen und Symbole an öffentlichen, nicht jedoch an privaten oder konfessionellen, Schulen verbietet. Betroffen sind große christliche Kreuze, die jüdische Kippa – und das islamische Kopftuch. Radikale Muslimverbände und fundamentalistische Eltern liefen bis Ende August Sturm dagegen, und Schulleiter stellen sich auf handfeste Streitereien an den Eingangsportalen ein, da sie Kopftuchträgerinnen den Zutritt verwehren müssen.

Doch am Donnerstagmorgen verlief der Schulbeginn in ganz Frankreich reibungslos. Nur in wenigen Schulen begehrten Mädchen mit Kopftuch Einlass. Auf die Weigerung des Rektors nahmen sie es widerstandslos ab; teilweise ersetzten sie es durch das so genannte "Bandana", ein breites Band über Stirne und Ohren. In der Einwandererstadt Mantes-la-Jolie westlich von Paris wurden zum Beispiel acht Kopftuchträgerinnen gezählt, im Elsass etwa zehn – sie alle steckten ihr Tuch ohne weitere Proteste in der Tasche.

Solidarität mit den Entführten

Die Bilder vom friedlichen Schulbeginn täuschen aber nicht darüber hinweg, dass die Lage vor allem an städtischen Schulen mit hohem Einwandereranteil gespannt war. Freiwillig entledigten sich die Mädchen ihres Schleiers nicht. Sie taten es aus Rücksicht auf die zwei französischen Journalisten, die im Irak vor mehr als zehn Tagen von Extremisten mit dem Zweck entführt worden waren, den Rückzug des "Kopftuch-Gesetzes" zu verlangen. Um mit den Kidnappern nicht in einen Topf geworfen zu werden, riefen sämtliche größeren Muslimverbände in Frankreich dazu auf, das Gesetz zu respektieren. Dies gilt namentlich für die "Union der islamischen Organisationen Frankreichs" (UOIF), die noch im Frühjahr harten Widerstand gegen das Kopftuchgesetz angekündigt hatte. Ihre Vertreter reihen sich seit Tagen in die zahlreichen Manifestationen nationaler Solidarität mit den entführten Reportern ein. Ihr Generalsekretär Fouad Alaoui reiste sogar mit einer Delegation muslimischer Würdenträger aus Paris nach Bagdad, wo er sich am Donnerstag für die Freilassung der Geiseln bemühte.

Die französischen Medien spekulierten indes über die Ursachen der Entführung, nachdem auch das zweite Ultimatum der Geiselnehmer in der Nacht auf Donnerstag vorerst folgenlos abgelaufen ist. Immer mehr Medien melden Zweifel an, ob es den Entführern wirklich um das Kopftuchgesetz gehe. So mutmaßte etwa der Nouvel Observateur, die Entführer würden aus sunnitischen Quellen in Saudi- Arabien unterstützt, um eine schiitische Machtübernahme im Irak zu verhindern. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.9.2004)