Wir haben unseren Teil getan. Bis auf kleinere Probleme bei der Umsetzung unserer Reformgesetze hat die Türkei die Ansprüche der Kopenhagener Kriterien erfüllt. Es ist nun an der EU, Wort zu halten, und die Beitrittsgespräche mit der Türkei zu beginnen." Mit diesem Statement reagierte Außenminister Abdullah Gül vor wenigen Tagen auf eine zunehmende Verunsicherung der türkischen Öffentlichkeit.

Wird die EU uns wieder vertrösten oder kommt es jetzt endlich zum Durchbruch, ist die Gretchenfrage, die das ganze Land bewegt. Ministerpräsident Tayyip Erdogan tut sein Bestes, um Zuversicht zu verbreiten. "Ich bekommen ganz überwiegend positive Signale aus den europäischen Hauptstädten", behauptete er in einem Interview mit der Bild-Zeitung, bevor er zu seinem Sommerurlaub an die Schwarzmeerküste verschwand.

Trotz dieser Seelenmassage von der Spitze der Regierung wächst unter den Türken die Befürchtung, dass es auch in diesem Jahr wieder nichts werden könnte mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen, da sich die Stimmen einer schroffen Ablehnung häufen. Auf Empörung stoßen hier vor allem Äußerungen, die ganz offen Ressentiments gegen "die Türken" schüren.

Als kürzlich der Chefinquisitor des Vatikans, Kardinal Joseph Ratzinger, in einem Interview mit dem französischen Figaro , eine Tirade über den Untergang des Abendlandes losließ, sollten die Regierungschefs der EU im Dezember den Beginn von Beitrittsverhandlungen beschließen, räumte die Presse dem Gottesmann breiten Raum ein. Man könnte ja darüber hinwegsehen, wenn Ratzinger der Einzige wäre, doch in der Türkei verfestigt sich der Eindruck, dass der Kardinal nur laut sagt, was weite Kreise der Konservativen in Österreich, Deutschland und Frankreich denken. Ein Großteil der türkischen Bevölkerung wappnet sich deshalb bereits innerlich gegen einen Rückschlag. In Umfragen geben zwar rund 78 Prozent an, dass sie eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU befürworten. Satte 80 Prozent sind aber gleichzeitig der Meinung, die reichen Europäer werden die armen Türken niemals in ihren Klub aufnehmen, ganz egal, welche Reformen die Regierung durchführt und wie demokratisch ihr Land mittlerweile geworden ist.

Selbst unter gut informierten Geschäftsleuten, die allesamt große Hoffnungen auf eine Annäherung an die EU setzen, halten sich Pessimisten und Optimisten gerade einmal die Waage. Eine Umfrage unter 1150 Geschäftsleuten, die der Industriellenverband MÜSIAD, eine der regierenden AKP nahe stehende Organisation, im August durchgeführt hat, ergab 45 Prozent, die nicht an Beitrittsgespräche glauben, und nur 47 Prozent, die den Optimismus ihrer Regierung teilen. Noch überwiegen jedoch in den Medien die Stimmen derjenigen, die die Regierung auffordern, bei ihrem Reformkurs zu bleiben und in den letzten Wochen vor der Entscheidung möglichst noch eindeutige Signale in Richtung EU zu senden.

Für die letzten drei Monate vor dem entscheidenden EU-Gipfel Anfang Dezember in Den Haag plant Ankara ein ganzes Feuerwerk diplomatischer Aktivitäten. So wird am 4./5. Oktober, unmittelbar bevor die EU-Kommission ihre Empfehlung verkünden wird, in Istanbul ein Treffen zwischen 25 EU-Außenministern und über 50 ihrer Kollegen aus Staaten der Organisation Islamischer Konferenz stattfinden. Ein Meeting, das Ankara in ähnlicher Form bereits einmal vor Beginn des Irakkrieges veranstaltet hatte, und das die Brückenfunktion der Türkei zwischen Europa und Asien versinnbildlichen soll. Nach seinem Besuch in Paris im Juli wird Erdogan im Oktober nach einmal nach Frankreich reisen, wo nach Einschätzung der türkischen Diplomatie letztlich die Entscheidung fällt. Wird Frankreich seinen Widerstand aufgeben, werden sich auch kleinere Staaten wie Österreich und Dänemark nicht mehr quer legen, glaubt man in Ankara.

Trotzdem wird auch das österreichische Terrain beackert. Ende August will TÜSIAD, der einflussreichste Verband türkischer Geschäftsleute, in Wien einen großen Kongress mit österreichischen Partnern veranstalten und Anfang Oktober sollen 25 einflussreiche österreichische Journalisten zu einer Informationsreise in die Türkei eingeladen werden. Reicht es trotz aller Anstrengungen im Dezember nicht dazu, dass die EU dem Beginn von Verhandlungen mit der Türkei zustimmt, kommen auf die Regierung Erdogan schwere Zeiten zu. (DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.8.2004)