Die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform Hartz IV in Deutschland werden immer massiver. Wer beobachten konnte, wie wütende Demonstranten am Dienstag Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einem Besuch im ostdeutschen Wittenberge mit Eiern und Steinen attackierten, dem fällt nicht schwer, sich eine weitere Radikalisierung auszumalen. Auch bei den Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern vom linken und rechten Lager.

Sofort spürbar

Die Reform, die den Namen des VW-Managers Peter Hartz trägt, ist nicht neu. Während die bisherigen Reformschritte Hartz I bis III unpersönlicher waren, weil es etwa um die Lockerung des Kündigungsschutzes ging, so ist Hartz IV für jeden Betroffenen sofort spürbar: Die meisten haben weniger Geld in der Börse.

Weil gleichzeitig aber auch der Druck erhöht wird, jeden Job - und noch dazu für jede Bezahlung - anzunehmen, ist die Empörung insbesondere in Ostdeutschland groß. Das ist auch verständlich, denn dort kommen 22 Arbeitssuchende auf eine offene Stelle. Die Chance, eine Arbeit zu finden, ist statistisch und real gering. Und die Verantwortung dafür darf nicht den Betroffenen aufgebürdet werden, wie dies mit Hartz IV geschieht.

Das ist das Grundproblem: Es wurde gar nicht versucht, regionale oder spezifische Lösungen zu finden, obwohl es in Ostdeutschland einfach besondere Probleme gibt. In dem Bemühen, schwarze Schafe zu treffen, die es sich auf Kosten der Steuerzahler gemütlich machen, wurden einfach alle getroffen.

Bürokratie

In typisch deutscher Manier wurde dann auch noch eine Bürokratie aufgebaut, die den Großteil schlicht überfordert. Was in Ostdeutschland das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat, war die Entsendung von westdeutschen Beamten, die nun als Berater für die komplizierten Formulare fungieren und für ihren Einsatz in den neuen Bundesländern 5000 Euro Extrahonorar bekommen.

Woran es bisher vor allem gemangelt hat, waren Sensibilität, Erklärungen und Begründungen. Das muss sich die rot- grüne Regierung vorwerfen lassen. Sie hat es auch wochenlang verabsäumt, auf die Mitverantwortung der Oppositionsparteien CDU/CSU hinzuweisen, die das Reformpaket mitbeschlossen haben.

Rekord-Defizit

Ausgerechnet vom Statistischen Bundesamt kommt nun Argumentationshilfe. Der sich für heuer abzeichnende historische Höchststand beim Staatsdefizit führt drastisch vor Augen, dass es so einfach nicht mehr weitergehen kann. Bund, Länder und Gemeinden haben in den ersten sechs Monaten 42,7 Milliarden Euro mehr ausgegeben, als sie einnahmen. Die Kosten für die Arbeitslosen steigen sukzessive an. Das zeigt eindringlich den Handlungsbedarf: Wo nichts mehr ist, kann nicht immer mehr ausgegeben werden. Da geht es dem deutschen Staat nicht anders wie einer Privatperson.

Immer mehr Schulden sind keine Lösung, zumal damit kommenden Generationen, die sich schon auf eine stärkere Selbstverantwortung etwa im Gesundheitsbereich und auf Minipensionen einstellen müssen, weitere Lasten aufgebürdet werden.

Verpflichtungen

Deutschland hat sich auch international verpflichtet, die Verschuldung zu reduzieren. Der EU-Stabilitätspakt schreibt beim Staatsdefizit eine Höchstgrenze von 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts statt der sich abzeichnenden 4,0 Prozent vor.

Der deutsche Wirtschaftsexperte Bert Rürup hat es im STANDARD-Interview nobel ausgedrückt: Der deutsche Staat sei fiskalisch erschöpft. Gleichzeitig spricht er eine unangenehme Wahrheit aus, wovor sich die deutschen Politiker bisher drücken: Dieser Staat kann sich nicht mehr leisten, für Langzeitarbeitslose eine Lebensstandardsicherung zu finanzieren. Er kann nur noch die Existenzsicherung garantieren. Deutschland macht einen für viele schmerzhaften Veränderungsprozess durch. Auch wenn an der Umsetzung vieles zu kritisieren ist, so ist bisher keine Alternative zum eingeschlagenen Weg in Sicht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.8.2004)