Hier lief die legendäre Titanic aus

Der schwarze Lee hält die Stadt in seinen Armen, umspült sie von allen Seiten und badet sie in seinen Wellen. So schwer fällt ihm der Abschied, dass er sich auf seinem Weg zum nahen Meer windet, mäandert, Seen bildet und so einen der größten natürlichen Hafen der Welt angelegt hat. Dieser war einst die letzte Station der Titanic auf ihrem Weg ins Verderben. Fast alle Ozeanriesen machten hier an der irischen Südküste Halt, und Tausende von Auswandererschiffen nahmen die Menschen auf, die vor Hunger und Not nach Amerika flohen.

"Wir sind die Rebellenstadt", erklärt Stadtführerin Noreen Murphy Sheehan stolz. Sie erzählt von den Kanälen unter dem Straßenpflaster, den Dichtern, den Künstlern, Seefahrern, Hugenotten, jüdischen Einwanderern und vom irischen Schicksalsjahr 1920. Damals erschossen britische Spezialtruppen den Bürgermeister und brannten die Innenstadt nieder, weil sich die Corker nicht mehr unter das Joch der Fremdherrschaft fügen wollten. Später mussten die Steuerzahler Seiner Majestät den Wiederaufbau finanzieren. Die Corker hatten das Königreich verklagt und gewonnen. Spätestens seit dem erfolgreichen irischen Unabhängigkeitskrieg trägt Cork stolz den Namen Rebel Town.

In Irland, heißt es, ist jedes vierte Haus eine Kirche und jedes dritte eine Kneipe. In Cork sind es ein paar Kirchen weniger und einige Kneipen mehr. Voll sind die Pubs fast alle und fast immer, trotz des seit Ende März geltenden Rauchverbots. Im "Thirsty Scholar", dem "durstigen Schüler", nicht weit von der 150 Jahre alten, im Tudor-Stil erbauten Universität, lauschen junge Leute aus aller Welt den beiden Fiedeln und der Gitarre. "Diese Musik musst du spüren. Da gibt es keine Noten", erklärt John, der junge Fiedelspieler. Er war auf einer irischen Schule. Dort wird in der alten Nationalsprache Gälisch unterrichtet, und die irische Musik ist Teil des Lehrplans. An den hier Sesiún genannten, spontanen Auftritten in den Corker Kneipen, liebt er die Freiheit beim Spielen.

In ganz Irland sind die Corker mit ihrem singenden Dialekt als fröhlich und gesprächig bekannt - und als eigenwillig. 1985 wählten sie aus Wut auf die Regierenden einen rebellischen Analphabeten in den Stadtrat. Sie sammelten Geld, damit sich ihr neuer Ratsherr ein Gebiss machen lassen konnte, und finanzierten ihm seine erste Reise jenseits der Stadtgrenze: zur exilirischen Gemeinde in den USA. Deren Vorfahren hatten Irland einst über den Corker Hafen Cobh verlassen.

Die Kunststudentin Annie fühlt sich in Cork als Teil eines Ganzen. Die 23-Jährige ist hier aufgewachsen, durch die Welt gereist und nun zurückgekommen. Sie sagt: "Wie verloren du dich auch fühlst, hier gibt es immer einen Platz für dich." - Einen Platz zum Beispiel in einer der vielen Kneipen oder einen Arbeitsplatz in den vielen Unternehmen, die sich an den Ufern des Lee in den vergangenen Jahren niedergelassen haben.

Mit Steuerrabatten und billigen Grundstücken hat die irische Regierung Großunternehmen wie Apple oder die Hotelkette Marriott angelockt. Der Pharmakonzern Pfizer produziert in einem Corker Vorort Viagra. Europäische Firmen folgten und stellen in ihren Telefonzentralen junge Leute ein, die Englisch, Deutsch oder eine andere europäische Sprache sprechen. Die Malerin Anne Steinen ist in Cork geboren: "Diese Stadt brummt vor Ideen. Sie ist voll mit jungen, kreativen Leuten", schwärmt sie und ärgert sich, dass "so viele Projekte an den Behörden oder simplen Versicherungsfragen scheitern."

Im Kulturhauptstadtjahr 2005 soll sich das ändern. Aus 2000 Vorschlägen, die die städtische Veranstaltergesellschaft Cork 2005 auf ihre europaweite, offene Ausschreibung erhalten hat, wählten die Juroren 40 Projekte aus: Geplant sind Ausstellungen zur Geschichte der Ozeanriesen, die den Corker Hafen Cobh mit Nordamerika verbanden, ein Straßentheaterfestival, ein Monat der Kindheit, ein Ruderrennen vom 23 Kilometer entfernten Atlantik in die Innenstadt, Gastspiele von

Performancekünstlern und Theatern aus den neuen EU-Ländern, Kunstausstellungen und viele kleinere Ereignisse unter dem Motto "Kunst für alle". Der Heilige Fin Barre würde sich über diese quirlige Stadt zu Füßen seiner Kathedrale wundern. Er hat sich einst hier niedergelassen, um dem Rummel auf seiner Insel zu entfliehen. Als immer mehr Pilger in seine Einsiedelei auf der Insel Gugan Barra kamen, machte er sich auf die Suche nach einem ruhigen Plätzchen, an dem er Gott nahe sein konnte. Der eigenwillige Mönch folgte dem Lauf des schwarzen Flusses nach Osten. Schließlich gründete er vor 800 Jahren an einer Biegung des Lee ein neues Kloster, die Keimzelle der Stadt Cork.

Europas neue Kulturhauptstadt in spe ist stolz auf ihre Tradition der meist friedlichen Begegnungen verschiedener Kulturen. In der Bucht, die der Lee-Fluss unten am Meer geschaffen hat, landeten Wikinger, Normannen, Engländer und Hugenotten, die alle ihre Spuren in der Stadt hinterlassen haben.

Das "Französische Viertel" ist heute ein beliebtes, autofreies Ausgehrevier mit vielen neuen Straßencafés und Restaurants. Ein Platz trägt dort den Namen des Rockgitarristen Rory Gallagher. Er ist Corker wie der "Befreier Irlands", Frank O'Connor. Selbst James Joyce, Irlands bekanntester Schriftsteller, stammt ursprünglich aus Cork. Sein Vater ist hier geboren und zog später nach Dublin.

Joyce hat eine Kindheitserinnerung an die Stadt in einem seiner Stücke verarbeitet. Sein Vater bestellte sich die bekannteste Corker Spezialität: Drisheens, eine Blut- und Innereiensulz, die, so Touristenführerin Noreen, "widerlich aussieht und nach absolut nichts schmeckt". Ein Fleischer verkauft sie heute noch in der viktorianischen Ladenpassage English Market. Zwischen den gusseisernen Säulen der rund 150 Jahre alten Passage mit ihren bunt bemalten Decken duftet es nach frischem Kaffee, ausgefallenen Kuchen und nach Meer. Die Fischstände verkaufen alles, was der nahe Ozean an Genüssen hergibt. Draußen erinnert die neu gestaltete Hauptstraße Patrick Street mit ihren futuristischen Laternenmasten an die Schiffe, die hier jahrhundertelang festmachten.

Sie brachten auch die niederländischen Kaufleute, denen die Stadt viele ihrer Bürgerhäuser, ihre grachtenähnlichen Kanäle und viele ihrer 128 Brücken über die Arme des Lee verdankt. Erst im 18. Jahrhundert ließen die Stadtväter die meisten innerstädtischen Kanäle zuschütten und die Stadtmauern abreißen, um Platz zu schaffen.

Noreen erinnert sich an den Besuch der Juroren, die die Europäische Kulturhauptstadt 2005 auswählten: Sie hätten gesagt, dass sie "da unter dem Pflaster, wo das Wasser fließt, Energie und Geschichte spüren." Nun sei der Moment gekommen, dies ans Tageslicht zu holen und zu feiern. (Der Standard/rondo/13/8/2004)