Wenn Demokratie heißt, den Menschen Wahlfreiheit anzubieten, dann würden sich zweifellos die meisten Araber für einen Fernsehsender entscheiden, der ihre Anliegen widerspiegelt. In diesem Sinne ist Al-Jazeera durchaus tendenziös, weil der Sender von arabischen Patrioten geführt wird und arabisches Empfinden vermittelt. Allerdings ist das ebenso wenig strafbar wie die Tatsache, dass amerikanische Medien amerikanische Anliegen vermitteln und sich in Kriegszeiten aufführen wie die Cheerleader der US-Truppen. Die Hauptfrage in diesem Zusammenhang ist, ob Al-Jazeera, wie auch US-Fernsehsender, in der Berichterstattung wahrheitsgemäß agiert.

"Meinung und Gegenmeinung"

Al-Jazeera ist zweifellos ein professionelles Unternehmen. Seine führenden Journalisten wurden im Westen ausgebildet, und viele davon haben jahrelang bei der BBC gearbeitet. Tatsächlich wurde Al-Jazeera erst gegründet, nachdem die BBC ihren arabischen Sender unter dem Druck aus Saudi-Arabien schloss. Das Motto Al-Jazeeras, "Meinung und Gegenmeinung", hat die arabischen Zuseher aufgerüttelt, weil gegensätzliche Meinungen in terrestrischen arabischen Fernsehsendern selten zu hören sind.

Natürlich ist Al-Jazeera in der Berichterstattung über die israelische Besetzung Palästinas und den Irakkrieg nicht objektiv. Wie könnte er es auch sein? Aber man erfand auch keine Geschichten, sondern vermittelte bloß die arabische Mehrheitsmeinung.

Außerdem hat Al-Jazeera vor Kritik am Sender nie die Augen verschlossen. Im Juli hat Al-Jazeera als erste arabische TV-Station einen Berufsehrenkodex verabschiedet. Laut Angaben der BBC wird in diesem Kodex absolut klar und transparent dargelegt, wie sich Al-Jazeera- Journalisten zu verhalten haben und wie klare Grenzen zwischen Nachricht, Analyse und Kommentar zu setzen sind.

Im Hinblick auf die journalistische Arbeit von Al-Jazeera ist es höchste Zeit, dass der Sender von angesehenen, professionellen Journalisten bewertet wird und nicht von amerikanischen oder sonstigen staatlichen Repräsentanten, die ein politisches Hühnchen mit dem Sender rupfen möchten. Ein angesehenes Universitätsinstitut aus dem Bereich Journalismus könnte beispielsweise in Zusammenarbeit mit arabischen Medienkritikern eine ehrlichere Analyse der Arbeit des Senders bieten. Wenn es amerikanischen, britischen und anderen westlichen Regierungsvertretern ernsthaft um eine Reform in der arabischen Welt geht, müssen sie reformorientierte Araber und arabische Organisationen unterstützen, selbst wenn diese Organisationen ihnen zuweilen das Leben schwer machen. Wenn das einst zum westlichen Standard gehört, wird Al-Jazeera zu Recht als Teil der Lösung gelten und nicht als Teil des Problems. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.8.2004)