Mit Verwunderung und wachsendem Unmut blicken österreichische Bildungspolitiker, Lehrer und Journalisten nach Deutschland, wo der jüngste Vorstoß führender Printmedien die vermurkste Rechtschreibreform endgültig ins Chaos zu stürzen droht. Natürlich haben "Spiegel", "Süddeutsche", "FAZ" und "Welt" Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die neue deutsche Rechtschreibung oft wenig Sinn macht, nur zögerlich angenommen wird und weitere Verwirrung über die richtige Rechtschreibung stiftet.

Aber die oben genannten Zeitungen kehren ja nicht deshalb zur alten Orthografie zurück, um ihren Schreibern und Lesern das Leben zu erleichtern - die Ersteren verwenden ohnehin Korrekturprogramme, den Letzteren fällt die Rechtschreibung nur selten auf. Sie wollen mit diesem Schritt die deutschen Kultusminister dazu zwingen, das 20 Jahre alte Reformprojekt kurz vor seiner endgültigen Umsetzung doch noch zu kippen. Die Medien wandeln sich hier von Berichterstattern und Kommentatoren zu fanatischen Mitstreitern in einem modernen Glaubenskrieg.

Die Rechtschreibung eignet sich allerdings nicht für diese Art der Auseinandersetzung. Sie ist eine Frage der Konvention und der Koordination: Wie man "rechtschreibt", ist gleichgültig, solange jeder den gleichen Normen und Regeln folgt. Diese müssen sich mit der Zeit auch ändern. Doch gerade im inhomogenen deutschen Sprachraum ist - wie die zahlreiche Reformbemühungen der letzten hundert Jahre bewiesen haben - kaum eine allgemeine Akzeptanz für eine formelle Veränderung des Regelwerkes zu erzielen.

Dies nicht zu erkennen war der Fehler jener - meist deutschen - Experten und Beamten, die sich in ihrem Perfektionsdrang mit den Unzulänglichkeiten der klassischen Rechtschreibung nicht zufrieden geben wollten. Rückblickend hätte man sich die jüngste Rechtschreibreform ersparen sollen; die punktuellen Vereinfachungen stehen in keinem Verhältnis zu den von ihr verursachten Unsicherheiten und Kosten.

Doch nun ist die neue Rechtschreibung seit sechs Jahren in Kraft: Eine ganze Generation von Schülern kennt nichts anderes, die meisten Printmedien und Buchverlage haben sich umgestellt. Viele Schriftsteller beharren zwar auf der alten Rechtschreibung, aber dies ist ein legitimer Ausdruck ihrer künstlerischen Freiheit, kein kulturpolitisches Problem. Die Akzeptanz der neuen Regeln ist vor allem unter älteren Menschen niedrig, doch der Widerstand wird allmählich schwinden, wenn sich die neuen Schriftbilder ins öffentliche Bewusstsein einprägen.

In einer solchen Lage ist Gelassenheit gefragt und nicht Rechthaberei. Kleine orthografische Korrekturen muss es weiter geben. Eine Rückkehr zur gerade erst aufgegebenen alten Rechtschreibung, wie sie die deutschen Medien nun mit Hinweis auf die Verwirrung der Schreibenden fordern, wird diese nur noch weiter verstärken. Abgesehen von den Kosten für neue Bücher zieht die Kampagne die Orthografie tief in die täglichen Polit-Scharmützel zwischen deutschen Parteien und Bundesländern hinein.

All das lässt die Betroffenen in Österreich ziemlich kalt. Selbst wenn die nächste Rechtschreib-Krisensitzung in Wien stattfindet, bleibt es im Grunde ein innerdeutscher Streit. Das neue Regelwerk mag Schwächen haben, aber man kann mit ihnen auch nicht schlechter als mit dem alten leben, lautet hierzulande die vorherrschende Meinung. Der STANDARD-Redaktion geht es dabei vor allem darum, dass die eigene Rechtschreibung dem Lehrplan der Schulen entspricht. Schließlich sollen Schüler zum Zeitungslesen ermutigt und nicht durch ungewohnte Schreibweisen abgeschreckt werden.

Deutsche Beobachter mögen über den schlampigen Pragmatismus der Ösis lästern. Aber deren Art der Problem- und Konfliktlösung erweist sich bei komplexen Themen immer wieder der deutschen Verbissenheit als überlegen. Das gilt für die Wirtschaftspolitik genauso wie für die Orthografie. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2004)