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Sam McElroy (li.), Claire Booth und Joseph Alessi

Foto: REUTERS/Miro Kuzmanovic
Das feine, klare, verwirrende, fantastische und packende Libretto von Stephen Plaice und die schütteren, nervösen, nächtlich- fahlen Klänge von Harrison Birtwistle ergeben bei den Bregenzer Festspielen eine wunderbare Oper: "The Story of Io".


Bregenz - Eine Serviette. Die Grundidee des Stückes wurde, anno 2000, zuerst einmal auf eine Londoner Serviette gekritzelt: drinnen - draußen. Und: eine Frau, ein Mann. Und dann noch: sie kommunizieren lediglich durch Briefe. Sir Harrison Birtwistle notierte, und Stephen Langridge, der Regisseur, ging dann schon einmal proben mit seinen Schauspielern. Text war noch keiner da, Musik natürlich noch viel weniger, aber die Idee: drinnen, draußen, eine Frau, ein Mann, und Briefe.

Irgendwie, irgendwo, irgendwann kam dann die Io-Geschichte dazu: Io, Tochter des Inachos, wird auf der grünen Weide von Göttervater Zeus geschnackselt und dann, weil die eifersüchtige Gattin Lunte wittert, von ihm in eine Kuh verwandelt. Hera, nicht blöde, durchschaut die Trickserei und hetzt der armen Io eine Bremse auf den dicken Kuhhals. Io galoppiert, bremsengepiesackt, über ganze Kontinente bis ins ferne Ägypten. Dort dann endlich Ruhe, es folgen Wiedervermenschlichung und die Gründung eines Königsgeschlechts.

Was schließlich bei der Drinnen-draußen-Mann-Frau-Zeus-Hera-Io-Kombination rauskam, ist eines der feinsten, klarsten, verwirrendsten, fantastischsten und packendsten Librettos überhaupt: Stephen Plaice hat es gebaut, und zwar in einer Art Schichten- bzw. Mozartkugelkonstruktion. Plaice beginnt mit einem szenischen Nukleus: Eine Frau betritt ein Wohnzimmer, knipst die Stehlampe an, setzt sich in den Sessel, liest kurz in einem Buch und nickt ein. Ein Brief wird von einem Mann durch den Schlitz in der Wohnungstür geschoben. Die Frau wacht auf, geht zur Tür, erbricht den Brief und liest ihn. Sie schreibt eine Antwort, dann knipst sie die Lampe wieder aus und geht aus dem Zimmer.

Traumgeschichte

Sechs Mal lässt Plaice diese Sequenz wiederholen, erweitert und variiert sie jedes Mal etwas, addiert Informatives, multipliziert das handelnde Duo (mal drei). Im Traum der Frau ereignet sich die Geschichte der Io; diese verschmilzt von Mal zu Mal mehr mit den realen Szenen.

Alison Chitty hat die Normalo-Mann-Frau-Welt in klar-kargen, weichen Bildern gebaut: Edward Hopper meets Edwardian Style; Stephen Langridge hat die Kurzschlussgeschichte von Mythos und Mittelschicht, von Ekstase und Beschränkung mit stupender Gediegenheit eingerichtet.

Mit schüttereren, nervösen, nächtlich-fahlen Klängen lässt Harrison Birtwistle ein Streichquartett und eine Klarinette das beklemmende, mit vier (feinen) Sängern und zwei (ebensolchen) Schauspielern besetzte Wiederholungsspiel untermalen: Das Diotima String Quartet und Alan Hacker führten das musikalische Schichtwerk mit leichtem emotionalen Understatement aus. Mit der kontinentaleuropäischen Premiere von seiner Story of Io (koproduziert mit der Aldeburgh Almeida Opera) erlebte die "Kunst aus der Zeit"-Schiene bei den Bregenzer Festspielen ihre hörens- und sehenswerte Eröffnung. Und danke für die Serviette. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.7.2004)