Der Umgang der ÖVP mit ihren Traditionen ist seltsam genug und wird noch seltsamer, wenn die Protagonisten versuchen, ihren Blickwinkel darüber hinaus zu erweitern: So hält die ÖVP einerseits beharrlich daran fest, einmal pro Jahr im Kanzleramt eine Messe für den von den Nazis ermordeten Schmalspurdiktator Engelbert Dollfuß zu lesen, weigert sich aber ebenso beharrlich, dem von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer Robert Bernardis ein anständiges Angedenken zu angedeihen zu lassen.

Aufschlussreicher als die Feststellung, dass die ÖVP den Klerikalfaschisten Dollfuß heute wie vor 50 Jahren als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus und als dessen erstes Opfer heroisiert, wäre eine Antwort auf die Frage, warum sie es bis heute so bitter nötig hat, an diesem Bild festzuhalten.

Dazu wäre es allerdings notwendig, eine andere Bewertung des Ständestaatlers zu wagen, als die mit dem simplifizierenden Schluss, Dollfuß habe zwar - schlimm, schlimm - ein paar Arbeiterführer aufhängen lassen und alle Parteien verboten, damit aber Österreich vor Nazideutschland gerettet und dafür mit dem Leben bezahlt. Vielleicht käme die ÖVP auf den Gedanken, dass die päpstliche Ständestaatslehre, die auch in Spanien, Kroatien und der Slowakei als politische Handlungsanleitung genommen wurde, im Dollfuß-Österreich den Boden für die giftige Frucht aufbereiten half, die Hitler vier Jahre später ernten sollte. Vielleicht wäre es eine Überlegung wert, ob die Niederschlagung des Naziputsches dem Heldenmut des Ermordeten oder dem Ungeschick der braunen Akteure zu verdanken war.

Möglicherweise käme die ÖVP so zu einem neuen Selbstverständnis und damit zu einer Form des Gedenkens, in dem auch eine Figur wie Bernardis ihren angemessenen Platz hätte. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.7.2004)