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Während die Nato und die EU auf Distanz gehen, rücken Russland und die Ukraine näher.

Foto: Reuters/Valery Solovyov
Kiew/Moskau – Mit Neid blickt der ukrainische Staatschef Leonid Kutschma auf die postsowjetischen Nachbarländer, wo Präsidenten mit jeweils über 70 Prozent gewählt werden. Darauf kann sein regierendes Lager nicht bauen. Zu gespalten ist die Ukraine, zu konträr sind die Vorstellungen über die künftige Ausrichtung. Entsprechend groß ist das Interesse an den Präsidentschaftswahlen in drei Monaten, entsprechend erbittert der Wahlkampf zwischen Regierungslager und Opposition.

Kutschma muss den Sessel räumen

Nach zwei Amtsperioden muss Kutschma den Sessel räumen. Lange hat er erwogen, mittels Verfassungsänderung nochmals zu kandidieren. Inzwischen jedoch hat er als Kronprinzen den jetzigen Premier Viktor Janukowitsch, Exgouverneur und politischer Arm des Clans um den Donezker Industrieoligarchen Rinat Achmetow, präpariert.

Bei dessen Sieg wäre Kutschma, dem Korruptionsskandale und Verwicklung in den Mord an einem Journalisten vorgeworfen werden, strafrechtliche Immunität sicher.

Besitzstand-Sicherung

Auch würde Janukowitsch den Status quo und somit die Besitzstandsicherung für Kutschmas "Familie" – Kutschmas Schwiegersohn Viktor Pintschuk etwa ist einer der einflussreichsten Oligarchen – fortführen. Weil Janukowitschs Sieg keineswegs sicher ist, spekuliert Kutschma noch, das Präsidentenamt in seinen Kompetenzen zu beschneiden und den Status des Premierpostens, auf den er selbst im Herbst steigen könnte, aufzuwerten.

Starker Gegner

Im Kampf um die Macht in dem 48-Millionen-Einwohner-Staat ist Janukowitsch mit einem starken Gegner konfrontiert: Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, der sich als Premier der Jahre 2000/2001 mit dem Kampf gegen Oligarchenclans und der Auszahlung überfälliger Löhne große Beliebtheit erwarb. Von dieser zehrt er, nachdem er die Parlamentswahlen 2002 gewann, besonders außerhalb der Großstädte bis heute.Generell steht er für einen westlich orientierten Reformkurs und hat gewisse Chancen, einen Systemwechsel in Richtung mehr Demokratie, Marktwirtschaft und Sicherung der Pressefreiheit einzuleiten.

Mehr Demokratie

Darunter versteht man mehr Demokratie, die Umsetzung marktwirtschaftlicher Reformen, das Aufbrechen der großflächigen politisch-wirtschaftlichen Clanstrukturen sowie Fortschritte in der Pressefreiheit. Die Opposition klagt, dass diese gerade vor den Wahlen wieder stärker beschnitten werde.

Stichwahl wahrscheinlich

Umfragen geben Juschtschenko um die 25 Prozent, Janukowitsch 16 bis 19 Prozent und dem Kommunisten Petro Simonenko gute zehn Prozent. Wahrscheinlich ist somit eine Stichwahl zwischen den beiden ersteren, deren Ausgang von der Wahlempfehlung der Restkandidaten abhängen könnte. Simonenko etwa hat im industriereichen Osten Einfluss auf mehr als 20 Prozent der Wähler.

Keine große Integrationsfigur

Eine integrative Figur wird die Nation auch mit dem neuen Präsidenten noch nicht haben. Zu gespalten ist das Land, vor allem in geografischer Hinsicht. Obwohl die Rhetorik im Wahlkampf gerade die Armut thematisiert, ist der Graben doch mehr ein geographischer. Der Großteil der ukrainischsprachigen Westukraine fühlt sich Europa zugehörig und unterstützt Juschtschenko; der weitgehend russischsprachige Osten, wo die Zahl der Unentschlossenen am höchsten ist, steht mit etwas geringerer Konsequenz auf der Seite von Janukowitsch. Ausgehend von dieser Gespaltenheit hat sich schon Kutschma geopolitisch nie festgelegt, vielmehr die Politik der zwei Vektoren – sowohl Russland als auch Europa – verfolgt.

Die EU hat ihrerseits der Ukraine wenig Perspektiven geboten, Kutschma indes jüngst nachdrücklich zu fairen Wahlen ermahnt.

Distanz zu EU und Nato Dieser sandte seinerseits ein Signal aus, bevor er am gestrigen Montag in Jalta auf der Krim mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin zusammentraf: Er änderte jenen Punkt in der ukrainischen Militärdoktrin, dem zufolge sich das Land auf eine Vollmitgliedschaft in EU und Nato vorbereitet. Der Beitritt hat demnach keine Priorität mehr.

Russland ist aktiver: Präsident Wladimir Putins Verwahltungschef Dmitri Medwedjew besuchte diese Woche mit einer Delegation Kiew und verhandelte offenbar über die Form der Wahlhilfe. Die meisten Investitionen kommen ohnehin vom großen Bruder Russland, der allein in der ukrainischen Industrie 30 Prozent besitzt. (DER STANDARD, Printausgabe 27.7.2004)