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Eugen Drewermann ist Theologe, Therapeut und Schriftsteller. Er wurde 1966 zum Priester geweiht und 1992 u.a. wegen seines Buchs Kleriker suspendiert

Foto: REUTERS/Ali Jarekji
Zwischen den Vorfällen im Priesterseminar St. Pölten und den Idealen der hauptberuflichen Nachfolger Christi herrscht ein deutlicher Widerspruch. Über diesen sprach Bert Rebhandl mit dem deutschen Theologen Eugen Drewermann

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Mit einiger Verspätung erlebt nun auch die Katholische Kirche ihre "sexuelle Revolution". Aber es handelt sich dabei nicht um eine Befreiungsbewegung, wie sie die westlichen Gesellschaften seit den Sechzigerjahren erlebt haben, sondern um die neurotischen Reaktionen darauf: Der Klerus, durch den Pflichtzölibat in eine einsame Gegenposition zu einer freizügigen Umwelt gestellt, kommt mit dieser Last nicht mehr klar. Während die Zahl der Priesteramtskandidaten immer stärker zurückgeht, häufen sich die Berichte von sexuellen Übergriffen auf Minderjährige. Die verstärkte Aufmerksamkeit auch der Medien für Kindesmissbrauch hat zu einer Welle von Klagen vor allem in den USA geführt. Homosexuelle Beziehungen zwischen Klerikern werden nicht länger diskret behandelt. Das Lehramt reagiert darauf defensiv, während die Gläubigen sich im Alltag ihre Freiheiten einfach nehmen. Zwischen den Vorfällen im Priesterseminar St. Pölten und den Idealen der hauptberuflichen Nachfolger Christi herrscht ein Widerspruch, der durch die ganze Amtskirche geht. Der Theologe Eugen Drewermann beschäftigt sich seit langer Zeit mit den Entstellungen der jesuanischen Lehren in zweitausend Jahren Kirchengeschichte. Er plädiert im Gespräch mit dem Standard für eine radikale Neudefinition des christlichen Verhältnisses zur Welt, äußert sich aber insgesamt skeptisch über die Reformfähigkeit der "ecclesia semper reformanda".

Hoffen auf ein Wunder

Der Standard: Kinderpornographie, homosexuelle Beziehungen, Vertuschungsversuche: Die Vorgänge im Priesterseminar der Diözese St. Pölten enthalten vieles, was Sie in Ihrem Buch "Kleriker" als "Psychogramm eines Standes" beschrieben haben.
Drewermann: Die Katholische Kirche kann nicht leugnen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Zölibatsforderung und dem Fehlverhalten der Kleriker gibt. Den größten Teil der nahezu mit Notwendigkeit entstehenden Opfer bilden die Frauen, die sich in Priester verlieben. Sie haben häufig ganz "gesunde" Beziehungen, werden aber durch die Vorschriften der Kirche gezwungen, diese Liebe mit Füßen zu treten. Viele dieser Beziehungen scheitern, die Kinder wachsen, aufgrund einer Erpressung der Katholischen Kirche an ihren Vertretern, vaterlos auf. Das ist die erste, die noch weitgehend gesunde Schicht der Qual, die die Katholische Kirche chronisch produziert. Darüber hinaus werden aber ständig Gehemmtheiten verfeierlicht, bei Menschen, die persönliche Reife gar nicht erreichen dürfen. Sie stehen unter einem Triebdruck, aber ihre Ausbildung arbeitet diese Gehemmtheiten nicht durch.

Handelt es sich bei Homosexualität unter Klerikern um eine spezifische Form?
Drewermann: Die Psychologie spricht von einer Entwicklungshomosexualität in jungen Jahren. Diese wird bei religiösen Menschen häufig unter Angst festgeschrieben, sie wird in klerikalen Bindungen gefangen gesetzt. Ich zweifle nicht an den Statistiken, die einen Anteil von 40 Prozent Homosexuellen im Klerus errechnen. Es ist das Ergebnis einer einfachen Rückkopplung: Es gibt das Ideal, ohne sexuelle Kontakte zu leben. Die Sexualität wird verdrängt, deswegen ist die ja eigentlich vorläufige Entwicklungshomosexualität das einzige Stadium, das sich ohne schwerste Schuldgefühle erreichen lässt. Homosexuelle Priester in einem Seminar halten im Grunde ja auch das zölibatäre System sehr gut in Funktion: Sie wenden sich einander zu, und gehen nicht hinaus.

Der Zölibat hängt am Amt, man schwört Gott die Treue.
Drewermann: Theologisch ist das der unhaltbarste Punkt. Es gibt keine Alternative zwischen Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen. Jesus wollte diesen Widerspruch überwinden, der später in der Kirchengeschichte wieder eingeführt wurde und inzwischen eine zwanghaft-sadistische Ausrichtung bekommen hat: Der Katholizismus verfeierlicht alle monströsen Fehlleitungen im Sexualverhalten, und stellt ihnen ein Frauenbild der Reinheit, der Unantastbarkeit entgegen. Jede unerwünschte Schwangerschaft ist schon ein Verbrechen. Das normale Sexualleben wird dadurch monströs schwierig.

Die Sexualmoral hat das Lehramt, wie auch die Dogmatik, über Jahrhunderte hinweg entwickelt.
Drewermann: Das ist eben der Punkt: Es kommt aus einem extrem zentralistischen Patriarchalismus. Das ist ein ganz klarer Rückfall hinter das Evangelium. Die Verbitterung, die dieses System produziert, geht in die Ausbildung ein. Es entsteht eine Akzeptanz der Doppelmoral, damit die Lehre intakt bleibt. Eine Kirche, die so tut, kann nicht als seelsorglich verantwortlich empfunden werden. Und sie tut alles, um dieses System autoritär abzusichern: Die Theologen haben eine Gehorsamsverpflichtung gegenüber dem Lehramt, sie müssen das lehren, was die Glaubenskongregation vorschreibt. Das wirkt sich auf die Studierenden aus. Menschen, die nicht selbständig denken lernen, sind auch im Triebbereich leichter beherrschbar - aber nur bis zu einem gewissen Grad.

Das System insgesamt, die Ausbildung von Priestern und die Institutionen, in denen sie erfolgt, scheint sich immer mehr abzuschließen.
Drewermann: Das System leidet an einem unlösbaren Zielkonflikt: Die Weltoffenheit der Kirche geht nicht zusammen mit der Verschlossenheit der Amtsträger. Der Zölibat machte Sinn für Priester, die sich aus der Welt zurückziehen wollten.

In der Aufbruchsstimmung nach dem 2. Vatikanischen Konzil in den Sechzigerjahren schien der Pflichtzölibat beinahe schon erledigt.
Drewermann: Zumindest suchte ausgerechnet der konservative Papst Paul VI. einen realistischen Umgang mit den Problemen. Man ließ Priester heiraten, hat ihnen die Laisierung nicht verweigert, und versuchte sogar, den Übergang in andere Berufe zu unterstützen. Es gab dadurch natürlich einen dramatischen Schwund aus dem Amt. Unter Johannes Paul II. gab es einen Kurswechsel, jetzt werden in Rom kaum mehr Laisierungen unterschrieben. Durch das Fehlen einer beruflichen Alternative werden die Priester in ihrem Amt praktisch stranguliert.

Will Rom eine Kaderkirche?
Drewermann: Eine Beamtenschaft der vollkommenen Selbstauslieferung. Freud hat in seiner Massenpsychologie den Vergleich mit dem Militär gezogen - das trifft hier auch zu. Es ist eine archaische Struktur.

Die der St. Pöltener Bischof Krenn immer mit Nachdruck vertreten hat.
Drewermann: Bischof Krenn ist eigentlich eine tragische Figur. Er kommt aus einer Zeit, als eine Generation sich gerade bedingungslos einem Führer angeschlossen hatte. Es war der Falsche, und Krenn glaubte nun, den Richtigen zu kennen. Das Führerprinzip aber hat er nicht durchschaut. Dieser Irrtum hat sich in der Kirche verfestigt, mit allen fatalen Folgen.

Was kommt zum Ausdruck in der Tatsache, dass Kinderpornographie auf einem Computer im Seminar gefunden wurde?
Drewermann: Niemand kann Gefallen an Kindern finden und sie sexuell begehren, ohne selbst ein Kind in seiner Triebentwicklung geblieben zu sein. Als die Katholische Kirche noch in alter Macht und Herrlichkeit dastand, hat sie ganze Generationen erzogen, die zwischen dem Alter von zwölf Jahren, dem Beginn der Sexualität, und der Eheschließung mit, sagen wir einmal, 25 Jahren jede sexuelle Empfindung und Betätigung als schwere Sünde empfinden musste. Kindern wurde schon im Erstkommunionunterricht dieses Bewusstsein gegeben. Um der Heiligkeit willen wurde häufig die ganze Sexualität einfach geleugnet. Die Kirche gab "engelgleiche Jünglinge" wie den Heiligen Aloisius als Vorbilder - da darf man sich über gewisse Fixierungen nicht wundern.

Steht jetzt, da in den USA ständig neue Fälle bekannt werden, da die Diözese Portland deswegen sogar in Konkurs gegangen ist, das System auf dem Spiel, oder geht es nur um Einzelfälle?
Drewermann: Die Kirche schiebt die Schuld immer auf den Einzelnen, das ist ihr Prinzip, weil sie sich sonst dramatisch ändern müsste. Sie verhält sich wie eine Behörde.

Die gesellschaftliche Säkularisierung macht ihr ohnehin schwer zu schaffen. Sie wird ein Randphänomen.
Drewermann: Sie hat sich selbst dafür entschieden. Es ist falsch, sich gegen die Säkularisierung, also gegen Verweltlichung, zu stellen. Das war am Beginn der Neuzeit auch theologisch die falsche Idee. Gott ist nicht Gott nur am Sonntagvormittag, er erfasst das ganze Leben. Säkularisierung verstehe ich als eine Frömmigkeitshaltung, die Gott nicht ausspart. Die Katholische Kirche setzt auf die Rettung einer magischen Enklave, in der sie sitzt und auf Wunder hofft.

Hoffnung kommt, so scheint es zumindest, aus der Weltkirche. In den Entwicklungsländern verbindet sich der Glaube mit der lokalen Kultur.
Drewermann: Ich zweifle daran, dass sich dadurch die zentralen Probleme der Kirche lösen lassen, die auf einer jahrhundertelangen Erstarrung beruhen.

Ist die Katholische Kirche denn überhaupt noch reformfähig?
Drewermann: Das ist eine schwere Frage. Ich glaube, die Sache ist längst überdreht. Die Kirche hat im 16. Jahrhundert den Protest aus den eigenen Reihen abgelehnt, sie hat sich im 19. Jahrhundert gegen Vernunft und Freiheit gestellt. Ich glaube, dieser Status ist nicht veränderbar, ohne das gesamte System zu erschüttern. Als Gorbatschow begann, den sowjetischen Kommunismus zu reformieren, stellte sich auch schnell heraus, dass da nichts mehr zu retten war. Das übersehen auch die Kritiker der Katholischen Kirche. Es bedürfte einer gänzlich veränderten Sozialpsychologie, und ich sehe nicht, woher die kommen sollte.

Das Papsttum müsste auch völlig anders definiert werden, will man es nicht einfach abschaffen.
Drewermann: Dazu gäbe es sogar Ansätze! Sehen Sie: Die Katholische Kirche ist die einzige Religionsgemeinschaft, die auch ein Staat ist. Der Vatikan ist sogar UN-Mitglied. Da ließe sich etwas daraus machen. Stellen Sie sich vor, der Papst hätte die 37 Leute von der Cap Anamur aufgenommen und gesagt: Wir verstehen Gnade als Teil des Umgangs der Ersten mit der Dritten Welt. Ein Staat für Asylsuchende und gegen die Asylpolitik der EU, das wäre eine Transformation aus der Enklave heraus. Der Vatikan müsste aufhören, sich als Großmuseum zu verstehen, als das Gefängnis, zu dem er sich seit der Renaissance entwickelt hat. Er steht für eine Religionsgeschichte, die nicht bei Jesus, sondern im Mittelalter einsetzt. Tausend Jahre sind genug.

Was nun? Drewermann: Wir müssen dan ganzen Weg noch einmal zurückgehen. Bis an den Anfang der Neuzeit. (DER STANDARD Printausgabe 24/25.7.2004)