München/Berlin/London/Madrid - Die schwere Krise in der palästinensischen Führung und die Unruhen im Gaza-Streifen beschäftigen am Montag zahlreiche europäische Pressekommentatoren:Süddeutsche Zeitung

"Das Chaos im Gaza-Streifen gibt einen bitteren Vorgeschmack auf die Zeit nach dem Abzug israelischer Truppen und jüdischer Siedler. (...) Jetzt erntet Arafat die Früchte des Zorns: Sein Volk wendet sich den Terrorgruppen zu, die sich die Zerstörung Israels zum Ziel gesetzt haben. Sie genießen inzwischen mehr Respekt in der palästinensischen Zivilgesellschaft als ihr Präsident. In dem Chaos manifestiert sich auch, dass Israels Strategie nicht aufgeht, die Terrorstrukturen der Palästinenser zu zerstören, wenn es Arafat nicht tut. Damit heizt es Hass nur an."

Der Tagesspiegel, Berlin

"Sharon hat gewaltige Bewegung in die nahöstliche Szenerie gebracht - auch wenn er von seinen Plänen praktisch noch nichts in die Tat umgesetzt hat. Allein seine Absicht, die israelischen Truppen aus dem Gaza-Streifen abzuziehen und die dortigen Siedlungen zu räumen, hatte gravierende Folgen: Chaos, Regierungskrise bei den Palästinensern und neue Koalitionsverhandlungen in Jerusalem. Die Gegner Sharons und Arafats nutzen nun die Gelegenheit zu Machtproben - mit wenig Aussicht auf Erfolg. Denn die beiden alten Politfüchse Sharon und Arafat werden im Amt bleiben. Ihre Gegner und Konkurrenten werden sie auch weiterhin in Schach halten. Und trotz chaotischer Zustände im Gaza-Streifen wird die Lage in der Region deswegen nicht außer Kontrolle geraten."

Financial Times Deutschland

"Schon Machiavelli wusste, dass kaum etwas ein Volk so zuverlässig eint wie ein gemeinsamer Feind. Die Palästinenser hat in den vergangenen Jahren der Widerstand gegen die verhassten israelischen Besatzer, die Intifada, zusammengeschweißt. Seit aber Sharon den Rückzug aus dem Gaza-Streifen angekündigt hat, fragen sich viele, wie ihre Zukunft aussehen soll. Den Konflikt werden die Palästinenser austragen müssen - auch wenn das zunächst in die Krise führt. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung schwelte in der bitterarmen Bevölkerung schon lange. Soll der Gaza-Streifen nach dem Abzug der Israelis nicht auf Dauer im Chaos versinken, müssen dort auch die Machtverhältnisse geklärt werden. Die Entscheidung, in was für einem Land sie leben wollen, müssen die Palästinenser treffen."

El País, Madrid

"Niemand wird dem palästinensischen Präsidenten seine Überlebensfähigkeit abstreiten. Aber die vergangenen Tage haben den Anfang eines politischen Todeskampfes eingeleitet, der sehr kurz sein kann und der von immer mehr Verhandlungspartnern Arafats gewünscht wird, sowohl in Israel und in den USA als auch in Europa. Die Zusammenstöße der vergangenen Tage in den besetzten Gebieten waren zweifellos der bisher größte innerpalästinensische Aufstand gegen einen Rais, der glaubt, sich gegenüber seinen eigenen Leuten alles erlauben zu können, sich aber für nichts verantworten zu müssen."

The Daily Telegraph

"Nun werden die Palästinenser vielleicht Erfolg haben, wo die Israelis scheiterten, und den Mann ins Abseits stellen, der das größte Hindernis für den Frieden ist. Die Tragödie der Palästinenser seit 1948 ist das Versagen ihrer Führer, auf einer realistischen Basis zu verhandeln. Vielleicht lernen die Palästinenser zum guten Schluss noch diese Lektion."

Handelsblatt, Düsseldorf

"Arafat kann von Glück reden, dass sein Hauptquartier von israelischen Soldaten umzingelt ist. Wäre er ein freier Mann, würde ihn sein Volk für Korruption und Vetternwirtschaft zur Verantwortung ziehen wollen. Arafat könnte nun erneut versuchen wollen, der wachsenden Opposition im Volk mit einer Flucht nach vorn zu begegnen. Vor vier Jahren nutzte er die Intifada, um von seiner Unfähigkeit abzulenken, das Leben der Palästinenser zu verbessern. Der Kampf gegen die israelische Besatzung stärkte intern seine Position, Korruptionsvorwürfe wurden vergessen. Allein, dieses Ventil kann Arafat jetzt nicht mehr benützen. Die Palästinenser sind müde. Sollte ihnen Arafat kein besseres Leben ermöglichen, werden sie sich endgültig von ihm abwenden."

Frankfurter Rundschau "Kidnapping aus Protest gegen Korruption, Anarchie in Folge arroganter Allüren - an diesen Problemen trifft Arafat erhebliche Mitschuld. Wenn sich politisch gar nichts bewegt, brechen irgendwann mit Gewalt die Verhältnisse auf. Oft genug profitierte Arafat davon, in dem er andere gegeneinander ausspielte, um sich am Ende als Übervater zu präsentieren. Auf diese Taktik dürfte er auch diesmal setzen. Ob sie aufgeht, hängt davon ab, wie reif die junge Politikergeneration ist. Zumindest steckt in dieser Krise die Chance, einem alternden, visionslosen Guerillaführer Grenzen zu zeigen. (...) Das bedeutet noch nicht, dass Arafat stürzt, aber vielleicht entsteht eine neue Balance. (...) Noch zeigt Arafat keine Spur von Einsicht. Doch auch wer zu spät hinhört, den bestraft bisweilen das Leben." (APA/dpa)