Nicht die sexuellen Beziehungen sind der Skandal, sondern die Heuchelei der katholischen Kirchenmänner, die exzessiv betreiben, was sie nach außen verdammen. Diese katholische Doppelmoral zieht sich wie eine Blutspur durch die europäische Geschichte, von den heftig lodernden Scheiterhaufen des Mittelalters bis zu den erhöhten Selbstmordraten lesbischwuler Jugendlicher heutiger Zeiten.

Die mediale Berichterstattung über den "Fall St. Pölten" beinhaltet kaum etwas von dieser Doppelmoral und Heuchelei oder gar ihren ungezählten Opfern. Stattdessen werden homosexuelle Intimitäten als "abartig" und "pervers" ausgeschlachtet, die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare – ansonsten von der Kirche (zu Recht) gefordert – als "besonders delikate Attraktion" und "zynische Verächtlichmachung der Lehre" niedergemacht und das freizügige homosexuelle Leben der Seminaristen als "offene Perversionen" gebrandmarkt.

Sexualität ist ein Menschenrecht

Sexualität ist ein Menschenrecht und Geistliche sind davon nicht ausgenommen. Abartig und pervers ist nicht, dass sie dieses Menschenrecht in Anspruch nehmen; abartig und pervers ist, dass sie es anderen verwehren wollen.

Über die Opfer der sadistischen katholischen Sexualmoral liest man gegenwärtig herzlich wenig; über das Generationen von Laien angetane Leid und über die verbogene Sexualität und die unendliche Einsamkeit katholischer Geistlicher, die sie nur allzu oft zu ganz konkreten Tätern werden lässt, nicht zuletzt an Frauen und Kindern. Stattdessen erregt sich die Presse über Bilder von innig küssenden Seminaristen und alteriert sich über einverständliche "Sexspiele" erwachsener Männer.

Kein einziger Rücktritt

Es ist erschütternd und bezeichnend zugleich, dass die Einleitung von Ermittlungen wegen des Verdachtes von Kinderpornografie zu keinem einzigen Rücktritt geführt haben, dass nun aber, wo es um einvernehmliche Sexualität zwischen erwachsenen Männern geht, zahlreiche geistliche Herren ihren Hut nehmen (müssen) und die Diözese St. Pölten (laut profil) "ins Chaos" stürzt.

Der St. Pöltner Skandal ist kein Sex-, sondern ein Heuchlerskandal. Auf beiden Seiten. Ein Priesterseminar besuchen nur erwachsene Männer. Wenn liberale Medien, die sonst (dankenswerterweise) vehement die Entdiskriminierung der Homosexualität einfordern, nun nach dem Rücktritt des Bischofs rufen, weil Seminaristen ihre Homosexualität leb(t)en, so ist das unerträgliche Heuchelei.

Parallelen drängen sich auf, etwa zur Linken der Zwischenkriegszeit, die zwar einerseits für die Entkriminalisierung homosexueller Beziehungen eingetreten war, anderseits aber die Nationalsozialisten wegen deren (angeblicher) Homosexualität massiv denunzierte.

Homophobe Treibjagd

Die homophobe Treibjagd muss ein Ende haben. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat geht es nicht an, dass Menschen für ihre gelebte Homosexualität medial verfolgt werden. Schon gar nicht, wenn dies (in Verletzung der Amtsverschwiegenheit) mit süffisanten Plaudereien eines leitenden Kriminalbeamten über, noch dazu strafrechtlich gar nicht relevante, Ermittlungsergebnisse garniert und mit der Veröffentlichung von behördlich beschlagnahmten intimen und legalen Bildern angereichert wird.

Es bleibt zu hoffen, dass alle straf- und zivilrechtlichen Maßnahmen ergriffen werden, um diesem Spuk Einhalt zu gebieten. (Der Standard, Printausgabe, 13.07.2004)