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Ernst Sucharipa war von 1993 bis 1999 österreichischer UNO-Botschafter. Er leitet heute die Diplomatische Akademie.

Foto: APA/Hans Klaus Techt
Am 28. Juni hat - zwei Tage früher als geplant - im Irak eine souveräne Interimsregierung die volle Verantwortung zur Ausübung der Regierungsgeschäfte übernommen. Sie soll die Regierungsgewalt im Irak bis zum Zeitpunkt der Übernahme der Regierung durch eine zu wählende weitere Übergangsregierung (voraussichtlich 2005) ausüben. Die internationale Legitimität für diese Interimsregierung beruht auf einer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 8. Juni einstimmig verabschiedeten Resolution (Res. 1546).

Damit wurde formell die bisherige Okkupation des Irak durch die "Koalitionsstreitkräfte" (in erster Linie amerikanische und britische Truppen) beendet. Der Leiter der bisherigen provisorischen Koalitionsbehörde, Paul Bremer, nahm Abschied; an seine Stelle tritt der bisherige US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, der der neuen amerikanischen Botschaft in Bagdad als Botschafter vorstehen wird. Bezeichnenderweise wird diese neue Botschaft - sie soll eine der größten der USA in der Welt werden - ihr Domizil, so wie die abgelöste Koalitionsverwaltung, im ehemaligen Regierungspalast Saddam Husseins aufschlagen.

Die Frage liegt somit auf der Hand: Was wird sich nun nach dieser Machtübergabe im Irak wirklich ändern? Auf den ersten Blick wenig: Die bisherige von den USA eingesetzte Verwaltung wird durch die neue Interimsregierung, die jedoch neuerlich aus designierten, nicht gewählten Mitgliedern besteht, ersetzt; der bisherige amerikanische Prokonsul wird von einem amerikanischen Botschafter abgelöst, der viele der bisherigen Aufgaben dieses Prokonsuls übernehmen wird. Eine 140.000 Mann starke Truppe der Koalitionsstreitkräfte bleibt im Land; sie wird von vielen irakischen Bürgern und Bürgerinnen weiter als Okkupationsmacht angesehen werden.

Irakische Gefangene, allen voran Saddam Hussein, werden zunächst weiter in amerikanischem Gewahrsam bleiben, wenn auch das Gerichtsverfahren vor einem irakischen Sondergericht stattfinden soll; die Interimsregierung wird in die Rechte und Verpflichtungen der provisorischen Koalitionsbehörde gegenüber dem von den Vereinten Nationen geführten Oil-for-Food-Programm eintreten, welches jedoch weitergeführt wird.

Dennoch bringt die Machtübernahme eine Reihe von zunächst rechtlichen und in weiterer Folge wohl auch politischen Änderungen. In erster Linie gibt es nun eine neue internationale Rechtsgrundlage für die weitere Truppenstationierung durch Sicherheitsresolution 1546, die ihrerseits wieder auf den Umstand verweist, dass die multinationale Streitmacht auf Einladung der Interimsregierung im Irak stationiert ist (oder besser bleibt) - und zwar solange dieser Wunsch aufrecht ist. Durch einen eigenen Briefwechsel zwischen der Interimsregierung und den multinationalen Streitkräften wurde eine "Sicherheitspartnerschaft" begründet, die der irakischen Regierung die strategischen, den US geführten Truppen jedoch die operationelle Kontrolle einräumt.

Im Klartext: Die früheren Okkupationsstreitkräfte bleiben im Lande, um "alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität beitragen" (Resolution des UN-Sicherheitsrates), dies allerdings nur unter der Voraussetzung einer weiterhin aufrechten Zustimmung seitens der irakischen Übergangsregierung. Eine vollständige militärische "Emanzipation" der neuen Machthaber ist somit theoretisch vorgezeichnet, wenn auch praktisch nicht zu erwarten, da die derzeitige und sich unter Umständen weiter verschlechternde Sicherheitssituation im Irak dies auch weiterhin nicht erlauben wird.

Wichtig ist, dass sich die neue Interimsregierung sowohl auf das ihr durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegebenen Mandat als auch auf einen gewissen Rückhalt in der irakischen Bevölkerung stützen kann. Die Mitglieder wurden unter Mithilfe der Vereinten Nationen dafür sorgfältig ausgewählt. Wenn es die Sicherheitssituation erlaubt, soll den Vereinten Nationen auch eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der für Jahresende oder spätestens Anfang des kommenden Jahres vorgesehenen Wahlen zukommen. Darüber hinaus sollen die Vereinten Nationen auch mithelfen, eine durch nationalen Dialog begründete neue Verfassung zu entwerfen und den Aufbau von sozialen und rechtlichen Institutionen zu unterstützen.

Gerade in diesen Aufgabenbereichen konnten die Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren in vielen anderen, wenngleich nicht unmittelbar vergleichbaren Fällen, große Erfahrung sammeln: Es geht hierbei um umfassende Verantwortlichkeiten bei der Konsolidierung der Staatswerdung (Nation Building). Die weit gehend positiven Beispiele reichen von Namibia über Mosambik und Osttimor bis Afghanistan, Bosnien und Kosovo. Um nachhaltig erfolgreich zu sein, müssen in allen diesen Fällen die gegebenen Übergangsarrangements mit konsensual zu treffenden Maßnahmen beim Aufbau neuer Institutionen angereichert werden. Dies kann nur unter adäquaten Sicherheitsbedingungen erfolgen, die es erlauben, Rechtsstaatlichkeit an die Stelle von unrechtmäßiger Gewaltanwendung treten zu lassen.

Die am 28. Juni vollzogene Machtübernahme hat sowohl symbolischen, aber auch rechtlichen und substanziellen Charakter. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob es der irakischen Bevölkerung erlaubt sein wird, diese Chance zu ergreifen. In manchem ist die heutige Situation des Irak mit der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland oder auch Österreich zu vergleichen: Zusammenbruch eines totalitären Regimes, wirtschaftliche Not und schwieriger Wiederaufbau.

Diese historischen Beispiele zeigen aber auch die zusätzlichen Schwierigkeiten auf, denen der Irak heute gegenübersteht: Zum Unterschied vom Europa der Nachkriegszeit besteht keine demokratische Erfahrung, an die wieder angeknüpft werden kann. Nach 1945 bestand in Deutschland und Österreich ein praktisch die gesamte Bevölkerung einigender Wille zum Neubeginn und Zusammenhalt. Dieser fehlt heute im Irak: Religiöse wie ethnische Unterschiede und separatistische Tendenzen sowie ein weit verbreitetes Clanwesen charakterisieren die politische Landschaft. Es besteht die Gefahr, dass allein die Ablehnung der Einmischung von außen zum einigenden Band werden könnte, welches dann aber wohl nicht ausreichen würde, die vorhandenen zentrifugalen Kräfte zu überwinden. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 3./4.7.2004)