George W. Bush, will, dass die EU die Türkei schleunigst aufnimmt. Jacques Chirac verbittet sich (zu Recht) diese neu imperiale Anwandlung des US-Präsidenten ("das wäre so, als würde ich den USA sagen, wie sie ihre Beziehungen zu Mexiko organisieren sollen"), aber er hält die Aufnahme der Türkei für "einen Weg, der unumkehrbar ist". Gerhard Schröder sagt nichts über Bush, zeigt sich aber zuversichtlich, dass die EU- Kommission im Oktober einen "positiven Bericht" über die Türkei abliefern werde; dann könne die Union "gar nicht anders entscheiden, als ihr Wort zu halten, das sie vor 41 Jahren gegeben hat".

Soll heißen, die EU wird gar nicht anders können, als mit der Türkei Verhandlungen aufzunehmen. Und diese Verhandlungen sollen in einem Beitritt enden. Verhandlungen können auch negativ enden. Es kann auch ziemlich lange dauern (als mögliches Beitrittsdatum für die Türkei wird 2015 genannt). Aber ausnahmsweise sind sich der amerikanische Präsident, der französische Präsident und der deutsche Kanzler einig, dass die Türkei der EU beitreten soll und wird (Der britische Premier ist ohnehin dafür). So deutlich wie auf dem Nato- Gipfel in Istanbul hat man das noch nie gehört.

Warum Bush für eine baldige Aufnahme ist, liegt auf der Hand: für die Nahost- Strategie der USA bildet die Türkei einen unverzichtbaren Eckpfeiler. Militärisch und gesellschaftspolitisch. Ihr Beitritt wäre "ein entscheidender Fortschritt in den Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen". Das "würde anderen islamischen Ländern vor Augen führen, dass ihre Religion mit Demokratie und einer modernen Gesellschaft durchaus vereinbar ist", schrieb der österreichische Experte Albert Rohan kürzlich im STANDARD. Die Aussicht auf den Beitritt würde die türkische Gesellschaft vor einem Abgleiten in den radikalen Islam bewahren, die entsprechenden Abstützungszahlungen hätte dann großteils die EU zu leisten.

Offenkundig teilen Chirac und Schröder diese Analyse. Sie hat auch viel für sich, erinnert aber unbehaglich an den großen Plan der Bushisten, mit der Invasion des Irak gleich auch den ganzen Nahen Osten umzumodeln.

Bush, Chirac, Schröder und Blair spielen Geostrategie (Berlusconi ist auch dafür, aber er will Russland auch mit hinein nehmen, er zählt nicht). Wird sonst jemand gefragt? Andere Regierungen oder gar die Völker? Österreichs Kanzler Schüssel ist (ebenso wie CDU-Chefin Merkel) dagegen. Eine "privilegierte Partnerschaft" müsse reichen. Offiziell sagt man, weder die Türkei, noch die EU seien derzeit reif für den Beitritt (das ist auch Gusenbauers Linie).

Objektiv stimmt das, aber die Frage geht ja tiefer: wird die Türkei 2015 reif sein – das heißt, eine Gesellschaft, in der Pluralismus, demokratische Kultur, Achtung der Menschenrechte, überhaupt etablierte Rechtsstaatlichkeit fest verankert sind? Nicht nur unter den Eliten, sondern in breiten Bevölkerungsschichten?

Das geostrategische Argument ist zweischneidig. Die EU gewinnt mit der Türkei laut Albert Rohan "politisches, militärisches und wirtschaftliches Gewicht". Was kann "ein größeres militärisches Gewicht" konkret bedeuten? Türkische Einheiten als zentraler Teil einer EU-Interventionstruppe irgendwo in einem nordafrikanischen oder nahöstlichen Unruheherd? Etwas Brisanteres kann man sich kaum vorstellen. Im Dezember soll die Entscheidung fallen. Bis dahin muss es eine intensivste Debatte über diese folgenschwerste Entscheidung der EU seit ihrer Gründung geben. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.7.2004)